Die Bruderschaft der Runen
Worte wusste, ließ sie eine Weile wirken. Dann sagte er: »Es ist noch eine Partei aufgetreten, meine Brüder, die das Rätsel der Schwertrune zu entwirren sucht, und obgleich wir seit vielen Jahren auf der Suche sind, ist nicht auszuschließen, dass unsere Feinde vor uns erfolgreich sein werden.«
»Tod und Verderben!«, tönte es jetzt aus vielen Dutzend Kehlen. »Tod und Verderben unseren Feinden!«
»Natürlich könnten wir das tun«, räumte ihr Anführer ein. »Natürlich könnten wir unseren Feind aus dem Weg räumen. Aber ich habe nachgedacht, meine Brüder, und bin zu der Einsicht gekommen, dass dies kein kluger Schritt wäre. Zum einen würde ein weiterer Mord die Aufmerksamkeit umso mehr auf unsere Bruderschaft lenken, was nach den jüngsten Vorfällen nicht ratsam wäre. Zum anderen – warum sollten wir uns die Neugier unserer Feinde nicht zu Nutze machen? Warum sollten wir uns nicht ihrer bedienen, um das Rätsel zu lösen und um zu finden, was so lange Zeit vor uns verborgen wurde?«
Der Chor der Vermummten war verstummt. Gebannt blickten sie auf ihr Oberhaupt; sie waren ebenso eingeschüchtert wie voller Bewunderung über dessen Scharfsinn und Durchtriebenheit.
»Ich werde dafür sorgen, dass unsere Feinde für uns arbeiten«, verkündete er seinen Plan mit lauter Stimme. »Sie werden glauben zu triumphieren, aber in Wahrheit werden wir es sein, die den Sieg in Händen halten. Sie werden meinen, uns zu überlisten, aber wir werden ihnen stets einen Schritt voraus sein. Nicht mehr lange, meine Brüder, und die Macht wird wieder in den Händen derer liegen, die sie von Beginn an innehatten. Niemand wird uns dieses Mal aufhalten können.«
Seine Anhänger, die ihn in weitem Rund umstanden, gaben dumpfe, heidnische Laute von sich, mit denen sie ihre Zustimmung ausdrückten.
»Aber, erhabener Meister«, wandte schließlich einer von ihnen ein, »wie wollt Ihr unsere Feinde dazu bringen, für uns zu arbeiten?«
Unter der silbernen Maske des Anführers drang leises Gelächter hervor, das an ein grollendes Gewitter gemahnte. »Es ist einfach, meine Brüder. Man muss die menschliche Natur nur gut genug kennen. Bisweilen muss man den Leuten Dinge verbieten, um sicherzugehen, dass sie sie dennoch tun. Eitelkeit und Neugier sind starke Verbündete, deren man sich zumeist bedienen kann – und auch Walter Scott ist nicht frei davon …«
11.
I n ein paar Tagen ist Vollmond.«
Quentin stand am Fenster des Arbeitszimmers und betrachtete die bleiche Scheibe des Mondes, deren Spiegelbild im Wasser des nahen Flusses glitzerte.
Es war schon weit nach Mitternacht. Lady Charlotte und die Mägde waren längst zu Bett gegangen, während Sir Walter noch immer bei der Arbeit saß. Die gedrängten Abgabetermine und die Vorfälle der letzten Tage, die ihn vom Schreiben abgehalten hatten, zwangen ihn dazu, fast jede Nacht am Schreibtisch zu durchwachen.
Den getreuen Mortimer hatte er beauftragt, rings um das Anwesen Wachen zu postieren, die Alarm schlagen sollten, sobald sich etwas Unerwartetes regte. Wenn Inspector Dellard keine Anstrengungen unternahm, um Abbotsford zu beschützen, so würde Scott das eben selbst tun. Quentin, der im Zuge der ganzen Aufregung ohnehin keinen Schlaf gefunden hätte, leistete seinem Onkel im Arbeitszimmer Gesellschaft.
»Ich mag den Vollmond nicht«, sagte der junge Mann, während er weiter nachdenklich aus dem Fenster blickte. »Er ist mir unheimlich.«
»Was muss ich hören?«, fragte Sir Walter, der an dem großen Schreibtisch saß und im Schein einer Lampe an seinem neuen Roman schrieb. »Mein Neffe fürchtet sich vor dem Vollmond?«
»Nicht vor dem Mond selbst«, erwiderte Quentin, »nur vor dem, was er bewirken kann.«
»So?« Sir Walter, der einer Unterbrechung seiner Arbeit nicht abgeneigt schien, ließ die Schreibfeder sinken. »Was kann der Vollmond denn bewirken?«
»Furchtbare Dinge.« Quentin starrte weiter hinaus, während er sichtbar schauderte. Die Wärme des Kaminfeuers schien ihn nicht zu erreichen. »In Edinburgh gab es einen alten Mann. Sein Name war Maximilian McGregor, aber wir Kinder nannten ihn nur den ›Geister-Max‹. Er erzählte uns viele Geschichten über verwunschene Häuser, Gespenster und Nachtmahre. Und in diesen Geschichten war immer Vollmond.«
Sir Walter lachte wohlwollend. »Diese Spukgeschichten sind so alt wie Edinburgh selbst. Auch mir hat man sie als Kind erzählt. Davor wirst du dich doch wohl nicht ängstigen, mein
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