Die Bruderschaft
- das war schon so gut wie alles, was sie wussten. Konyers stand auf der Liste der Brieffreunde, die sie demnächst fallen lassen wollten, weil sie zu zurückhaltend waren. Warum wollte er den Kontakt zu diesem Zeitpunkt abbrechen?
Ihnen fiel keine überzeugende Antwort ein.
Und das Argument war ohnehin an den Haaren herbeigezogen. Beech und Yarber fanden, dass kein Mann in Lakes Position, ein Mann, der gute Chancen hatte, der nächste Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, irgendjemandem erlauben würde, in seinem Namen persönliche Briefe zu schreiben und zu unterzeichnen. Lake hatte hundert Mitarbeiter, die Briefe und Vermerke für ihn tippten, damit er sie dann nacheinander unterschreiben konnte.
Spicer hatte eine bessere Frage: Warum sollte Lake das Risiko eingehen, Ricky eine handschriftliche Karte zu schicken? Seine anderen Briefe waren mit der Maschine auf einfachem weißem Briefpapier geschrieben worden und hatten in einem ebenso einfachen weißen Umschlag gesteckt. Sie konnten einen Feigling an der Wahl seines Briefpapiers erkennen, und Lake war einer der ängstlichsten Männer gewesen, die auf ihre Anzeige geantwortet hatten. Sein Wahlkampfapparat verfügte über viel Geld und jede Menge Laptops und Schreibmaschinen, vermutlich allesamt auf dem neuesten Stand der Technik.
Um die Antwort auf diese Frage zu finden, wandten sie sich wieder dem wenigen zu, das sie hatten. Die Karte an Carol war um l Uhr 20 geschrieben worden. Laut einem Zeitungsbericht war die Notlandung um 2 Uhr 15 erfolgt, also weniger als eine Stunde später.
»Er hat die Karte im Flugzeug geschrieben«, sagte Yarber. »Es war spät, die Maschine war voller Leute - in der Zeitung steht was von sechzig Personen. Die waren allesamt müde, und wahrscheinlich hatte er keinen Computer zur Hand.«
»Warum hat er dann nicht gewartet?« fragte Spicer. Er hatte eine große Begabung dafür, Fragen zu stellen, die niemand, am allerwenigsten er selbst, beantworten konnte.
»Er hat einen Fehler begangen. Er dachte, er wäre schlau, und wahrscheinlich ist er das auch. Aber irgendwie ist diese Karte an Carol in den falschen Umschlag geraten.«
»Ihr müsst den großen Zusammenhang sehen«, sagte Beech. »Die Nominierung ist ihm sicher. Er hat gerade in einer landesweit ausgestrahlten Sendung seinen einzigen Konkurrenten fertig gemacht und ist endlich davon überzeugt, dass sein Name im November auf dem Wahlzettel stehen wird. Aber er hat ein Geheimnis. Er hat Ricky, und er denkt seit Wochen darüber nach, was er mit ihm machen soll. Der Junge wird demnächst entlassen und will sich mit ihm treffen und so weiter. Lake spürt den Druck von beiden Seiten: Da ist einerseits Ricky und andererseits die Erkenntnis, dass er, Aaron Lake, möglicherweise Präsident werden wird. Also beschließt er, Ricky abzuservieren. Er schreibt einen Brief, und die Chancen, dass irgendetwas schief geht, stehen eins zu einer Million - aber dann gerät das Flugzeug in Brand. Lake macht einen kleinen Fehler, aber dieser Fehler verwandelt sich in ein Monster.«
»Und er weiß es nicht«, fügte Yarber hinzu. »Noch nicht.«
Beechs Theorie klang überzeugend. In der lastenden Stille ihres kleinen Zimmers betrachteten sie sie von allen Seiten. Die Tragweite ihrer Entdeckung ließ sie verstummen. Die Stunden vergingen, und langsam begriffen sie. Die nächste große Frage betraf die beunruhigende Tatsache, dass jemand Einblick in ihre Post genommen hatte. “Wer? Warum sollte irgendjemand so etwas tun? Und wie hatte er die Briefe abgefangen? Das Rätsel erschien ihnen unlösbar.
Wieder erwogen sie die Theorie, es müsse sich um jemanden handeln, der Lake sehr nahe stand - ein Assistent vielleicht, der Zugang zu privaten Unterlagen hatte und über die Briefe gestolpert war. Möglicherweise wollte er Lake vor Ricky beschützen, indem er sich mit dem Ziel, die Beziehung eines Tages irgendwie zu beenden, in den Briefwechsel einmischte.
Doch letztlich wussten sie zu wenig, um sich ein genaues Bild machen zu können. Sie kratzten sich am Kopf, kauten an den Fingernägeln und mussten schließlich zugeben, dass es wohl besser war, alles noch einmal zu überschlafen. So lange sie sich mehr Fragen als Antworten gegenübersahen, konnten sie keine konkreten Pläne machen.
Sie schliefen nur wenig. Unrasiert und mit geröteten Augen kamen sie kurz nach sechs Uhr morgens wieder zusammen und tranken dampfenden schwarzen Kaffee aus Styroporbechern. Sie verschlossen die Tür, holten
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