Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
tonnenschweres Gewicht senkte sich auf ihre Schultern. Nichts von alledem wäre geschehen, wenn ich nicht aufgetaucht wäre.
Sie blickte auf die Leichen der Männer und Frauen hinab, die Augen blind, die Gesichter im Moment des Todes zu Fratzen des Schreckens und der Hoffnungslosigkeit erstarrt. Achtundvierzig Tote insgesamt. Elena wehrte sich nicht gegen die Tränen, die aus ihren Augen quollen. Doch selbst die aufrichtige Trauer verschaffte ihr keinerlei Erleichterung.
Nach ein paar Minuten sandte sie ihre Gedanken erneut aus, suchte nach Überlebenden. Da, oben links!
Vorsichtig führte sie die Jhafi-Krieger in den Turm, doch sie trafen weder auf Heckenschützen noch sonstige Fallen. Alle Räume waren verwüstet, als hätten die Gorgio im letzten Moment noch einmal alles durchsucht, um ja nichts zurückzulassen, was von irgendwelchem Wert war. Nur in einem Zimmer entdeckten sie, verborgen unter Schutt und von den Wänden gefallenen Teppichen, eine große Kiste. Sie war verschlossen.
Lautlos glitt Mustaq heran und stemmte sie vorsichtig mit einem Brecheisen auf. Als das Schloss mit einem lauten Krachen aufsprang, fuhren alle zusammen.
In der Kiste kauerte ein Mädchen, das Gesicht dreck- und tränenverschmiert. Sie machte sich so klein, wie sie nur irgend konnte, und wimmerte.
»Schhh, Kind«, flüsterte Mustaq. »Die Dame Elena ist bei uns. Wir werden dir nichts tun.«
Das Mädchen war vollkommen verängstigt. Sein Gesicht war dunkel mit einer kindlichen Stupsnase, und es war dünn wie ein Besenstiel. Elena kannte die Kleine: Tarita, eine der jüngeren Mägde, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und kaum mehr als zwei Ellen groß. Sie war ein aufgewecktes, freches Mädchen, das mit den Gedanken oft woanders war. Einmal hatte sie Elena einen Eimer Wasser für die Badewanne gebracht – eiskalt. Das Heißmachen hatte sie einfach vergessen. Tarita hatte eine furchtbare Standpauke oder Schlimmeres erwartet, aber Elena hatte nur eine scherzhafte Bemerkung gemacht, und die Kleine hatte sofort mit eingestimmt, hatte Elena vorgeschlagen, sie könne das Wasser doch sicher mit ihrer Magie erhitzen. Jetzt stand Tarita unter schwerem Schock, und Elena fragte sich, wie sie hatte entkommen können.
»Tarita«, sagte sie leise, »würdest du mir bitte einen Eimer heißes Wasser bringen?«
Einen Moment sah es so aus, als wolle sie lächeln, aber dann verbarg sie das Gesicht in den Händen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Elena sie aus der Kiste heraus- und in ihre Arme gelockt hatte. Dann riefen sie eine Jhafi-Frau herbei, die sich um das Mädchen kümmern würde. Ich darf Tarita nicht vergessen. Ich muss wissen, was sie gesehen hat.
Sie fanden keine weiteren Überlebenden mehr, nur noch zerstörte Möbel und liegen gelassenes nutzloses Zeug. Lediglich der Raum, in dem Bastido untergebracht war, war unberührt. Elena hatte ihn so eingestellt, dass er jeden außer ihr selbst sofort auf Stufe fünf angreifen würde, sobald er die Kammer betrat. Vielleicht hatten sie sich deswegen von dem Zimmer ferngehalten. Elenas Kemenate hingegen war vollkommen verwüstet. Jemand – wahrscheinlich Vedya – hatte sich die Mühe gemacht, jedes einzelne ihrer Kleidungsstücke in Stücke zu reißen, um dann darauf zu urinieren. Es stank, und es tat auch ein bisschen weh, aber wirklich überrascht war Elena nicht.
Wenigstens habe ich mein Amulett getragen.
Als die Nesti zwei Wochen später nach Brochena zurückkehrten, herrschte eine Atmosphäre wie auf einem Volksfest. Die verhassten Gorgio hatten ihr wahres Gesicht gezeigt, hatten den König und schutzlose Bürger getötet, aber sie waren kampflos wieder abgezogen. Der Mut und die Entschlossenheit, die Cera nach der Auslöschung ihrer Familie gezeigt hatte, war bereits in aller Munde, die Freude über ihre Rückkehr spontan und echt. Elena wartete mit Mustaq al’Madhi und seinen Kämpfern auf der Haupttreppe auf die Ankunft von Ceras Tross. Der Jubel und die Gesänge wurden immer lauter, und Elena schwitzte unter ihrer Kapuze.
Die Königin-Regentin ließ sie nicht lange warten. Elena befürchtete, es könnten sich Attentäter in der Menge versteckt haben, aber Cera erreichte den Palast ohne Zwischenfälle, nahm die zahllosen Glückwünsche entgegen und ließ sich als Heldin feiern. Sie war gefasst, ihre Bewegungen würdevoll. Cera war kein kleines Mädchen mehr, sie war jetzt eine Frau. Als sei sie zu nichts anderem geboren . Der Gedanke erfüllte Elena sowohl mit Stolz
Weitere Kostenlose Bücher