Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
als auch mit Sorge.
Cera schritt die Stufen hinauf und blickte Elena dabei fragend an. Elena hatte ihr geschrieben, dennoch war Cera nicht sicher, welcher Anblick sie erwartete. Einen nach dem anderen begrüßte Cera die anwesenden Adligen und Hofbeamten, und als sie bei Elena angelangt war, verschlug es ihr für einen Moment den Atem. Die schlimmsten Spuren von Sordells Attacke waren bereits verheilt, doch mit dem stoppeligen silberblonden Haar und den tiefen Falten im Gesicht sah Elena aus wie eine andere. Zehn Jahre älter, nach normalen Menschenjahren gerechnet.
Cera hatte ihre Gesichtszüge schnell wieder im Griff und umarmte ihre Lebensretterin herzlich. »Ella – Dio! Was haben sie mit Euch gemacht?« Sie fuhr ihr durchs kurz geschorene Haar. »Ich erkenne Euch kaum wieder«, flüsterte sie.
»Ich hatte gehört, kommenden Winter seien kurze Haare der letzte Schrei bei Hofe.« Sie zwinkerte.
Cera nahm Elenas Hand und küsste sie, um sie danach nur noch fester zu umarmen. »Ihr habt unser Königreich zurückerobert, Ella.« Ihre Stimme zitterte. »Ihr seid eine Wunderwirkerin!«
»Nichts anderes ist meine Aufgabe«, erwiderte Elena trocken.
»Ich liebe Euch, Ella. Ihr seid wie Sol und Lune für mich.«
»Cera! Das ist Blasphemie. Passt auf, dass die Drui Euch nicht hören.« Elena tätschelte ihr die Wange, dann wurde ihre Stimme ernst. »Solinde hat sich geweigert zu kommen. Ich dringe einfach nicht zu ihr durch. Sie schirmt ihre Gedanken gegen mich ab. Wenn ich versuche, die Gnosis zu benutzen, müsste ich ihr wehtun. Die Jhafi fordern ihren Kopf wegen Hochverrats.«
Ceras Blick verfinsterte sich. »Später, Ella. Ich muss fröhlich aussehen heute.« Sie beugte sich ganz nah heran und flüsterte: »Mustaqs Leute haben tausend Sympathisanten der Gorgio umgebracht, und er hat mir eine Liste mit weiteren dreihundert Namen gegeben.« Sie sah Elena fest in die Augen. »Was soll ich tun?«
Elena schluckte. »Sag einfach nichts dazu. Wir sprechen später darüber.« Sie drückte ihre Hand und machte einen Knicks. »Später.«
Cera hielt ihren Blick noch einen Moment lang fest, dann ging sie weiter. Lächelnd begrüßte sie den Nächsten.
Elena zog sich im Schutz der Menge zurück. Alle um sie herum jubelten, doch sie konnte den Jubel nicht teilen. Sie merkte, wie Lorenzo ihr mit den Augen folgte. Als sich ihre Blicke begegneten, schaute er sofort woandershin.
Vier Leute waren an der Entscheidung beteiligt: Cera, Elena, Comte Piero Inveglio und Mustaq al’Madhi, der sich erschreckend schnell unverzichtbar gemacht hatte. Nach zögerlichem Beginn war die Beratung immer hitziger geworden, bis Mustaq schließlich von seinem Stuhl aufsprang und mit dem Finger auf Inveglio deutete. »Als die Gorgio kamen, haben die Händler und Gildevertreter sich auf sie gestürzt und um ihre Gunst gebuhlt. Wie Hunde haben sie sich vor ihren neuen Herren im Dreck gewälzt. Das darf nicht ungestraft bleiben!«
Inveglio protestierte. »Die meisten Leute auf dieser Liste – ich kenne sie. Sie hatten gar keine andere Wahl. Wenn ein Usurpator einem das Messer an die Kehle setzt, würde nur ein Narr sich widersetzen!«
»Ihr beschützt nur Eure Freunde, Eure sogenannten Geschäftspartner!«, geiferte Mustaq. »Diese Leute sind reich geworden durch die Gunst der Gorgio. Sie haben sich an die Brust des Feindes geworfen, um an ihr zu saugen, und jetzt fordert mein Volk Vergeltung.« Er wandte sich an Cera. »Die Gorgio haben die Dienerschaft Eures Palasts abgeschlachtet wie Tiere, und die Hunde auf dieser Liste haben es schwanzwedelnd gebilligt! Es muss eine Säuberung geben, geleitet und durchgeführt von den Nesti. Denn das Blut wird fließen, auch ohne Beteiligung der Nesti, das verspreche ich Euch!«
»Was sagt Ihr dazu, Elena?«, fragte Cera beinahe flehend.
Elena musterte sie nüchtern. Auch das ist Herrschen, Cera: nicht nur prächtige Auftritte, nicht nur schöne Reden schwingen, sondern auch das Schwert des Richters. »In Rimoni lebte einst ein Dichter. Sein Name war Nikos Mandelli, er war Berater der Kaiser von Rym, bevor die Magi die Herrschaft übernahmen. Er hat zahlreiche Schriften verfasst darüber, wie ein Reich am besten zu regieren sei. Die Kirche hat seine Texte verboten, aber sie blieben erhalten, und die Magi haben sich eingehend mit ihnen beschäftigt. In seinem Buch Der Kaiser schreibt Mandelli, dass ein Herrscher von seinem Volk sowohl geliebt als auch gefürchtet werden muss. Manchmal braucht es Milde und
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