Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
mir beigebracht hast, wie man eine Seele verschlingt?«, flüsterte sie. »Wie man sich den Geist und die Kräfte eines besiegten Gegners einverleibt? Genau das werde ich jetzt tun. Deine Seele wird auf ewig mir gehören, in ohnmächtigem Schmerz wirst du toben und schreien, während ich mir alles nehme, was einmal dein war. All deine Kräfte und Erinnerungen. Du wirst mir hilflos ausgeliefert sein, gefangen in mir für den Rest meines Lebens.« Vedya durchdrang das bisschen, was von Elenas Schilden noch übrig war, und schlüpfte in ihren Geist. Es war erbärmlich, wie sehr am Ende ihre einstige Meisterin war. Siehst du, ich erinnere mich gut an die Formel … Wie eine Schlange wickelte sich Vedyas Gnosis um das winzige Häuflein, das von Elena Anborns Kräften geblieben war, und öffnete die Kiefer.
Du glaubst nicht im Ernst, dass ich dir alles darüber gesagt habe, oder? , wisperte eine rasselnde Stimme in ihrem Geist.
Die Dunkelheit um Vedya herum veränderte sich, alles Licht verschwand. Sie schrie. Unsichtbare Klauen rissen ihren Geist in Stücke. Vedya schrie und schrie, bis nichts mehr von ihr übrig war.
Ganz langsam kam Elena wieder zu sich. Es war ein entsetzlich hohes Risiko gewesen. Sie war vollkommen erschöpft gewesen, kraftlos und leer. Lorenzos von Vedya herbeigeführten Angriff abzuwehren, hatte ihre letzten Reserven aufgebraucht – bis auf ein winziges Fünkchen, das sie mit aller Macht zurückhielt, um vielleicht die letzte hauchdünne Chance nutzen zu können, die ihr noch geblieben war. Hätte die Sydierin sie mit Gnosisblitzen erledigt oder einfach nur gewartet, bis die Soldaten der Gorgio auftauchten – Elena wäre erledigt gewesen. Doch Elena hatte Vedya einst gesagt, die Seele eines wehrlo sen Magus zu verschlingen, wäre stets die beste Methode, ihn zu töten, weil man dadurch selbst noch an Kraft dazugewinne. Das stimmte auch, aber gleichzeitig war es brandgefährlich, denn es eröffnete dem bereits Besiegten eine Möglichkeit zum Gegenangriff. Und diesen Gegenangriff konnte nur abwehren, wer wusste, wie. Das wiederum hatte Elena Vedya gegenüber nie erwähnt, geschweige denn ihr die Technik gezeigt. Man muss immer einen Plan für den Notfall haben …
Jetzt lag Vedyas leere Hülle im Straßenstaub, die glasigen Augen vollkommen leblos. Sie war so tot, wie man nur sein konnte: Ihre Seele war für immer ausgelöscht. Nicht einmal die Geisterwelt würde sie noch betreten, kein noch so guter Beschwörer oder Heiler konnte sie zurückholen. Das Bewusstsein, das Elena sich einverleibt hatte, hatte sich restlos aufgelöst. Die schöne, intrigante und vom Ehrgeiz zerfressene Vedya hatte für immer aufgehört zu existieren.
Was für ein grässliches Monster ich geworden bin. Aber ich lebe noch, und ich habe ihre Lebensenergie, bis auch die aufgebraucht ist …
Elena ignorierte die Schmerzen in ihren aufgeschlagenen Knien und stemmte sich hoch. Sie schleppte sich zu Lorenzo und legte den Kopf auf seine Brust. Seine Rippen hoben und senkten sich beinahe unmerklich, aber er lebte. Dank sei …
Mit einem Teil der Energie, die sie Vedya ausgesaugt hatte, sandte sie Gelassenheit in die Seelen der Jhafi in den Hütten rundum. Dutzende waren gestorben, viele für den Rest des Lebens seelisch gezeichnet. Sie schloss Lucas blicklose Augen und verfluchte sich, weil sie ihn nicht hatte beschützen können. Dann weckte sie Lorenzo und besänftigte seinen Geist, während er allmählich zu Bewusstsein kam.
Als der Ritter Elena erblickte, schnappte er nach Luft und fuhr ruckartig hoch. Er stieß sie von sich weg und duckte sich hinter die nächste Ecke. »Diablo!«, zischte er. »Rühr mich nicht an.«
Wie viel von seiner Reaktion immer noch auf Vedyas Bann zurückging, konnte sie nicht sagen. Oh Lori. Ich hatte dir gesagt, du solltest nicht mitkommen.
Das Siegesgeschrei der Gorgio erstarb. Sie hatten Vedyas Ende mit eigenen Augen beobachtet und fürchteten nun, dasselbe Schicksal zu erleiden.
Jhafi-Männer kamen aus dem Gassengewirr gelaufen und sahen, wie Elena sich schützend über Solinde beugte, während Lorenzo wie benommen mit abgewandtem Gesicht daneben kauerte. Es waren Gefolgsleute Mustaq al’Madhis, angeblich ein Händler, der als »Sultan der Suks« bekannt war – neben anderen, weniger schmeichelhaften Spitznamen. Mustaq handelte nach seinen eigenen undurchschaubaren Gesetzen, in deren Hierarchie die Nesti momentan über den anderen rimonischen Adelshäusern standen. Elena und Solinde
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