Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Nachsicht, manchmal aber auch Härte und Strafe. Eure Aufgabe ist, die Herrschaft der Nesti zu sichern. Ihr könnt nicht zulassen, dass die Unterstützer der Gorgio ungeschoren davonkommen. Es würde Eure Position beim Volk schwächen. Somit ist Euer Weg klar.«
Jetzt deutete Mustaq auf Elena. »Ihr habt die Jadugara gehört!«, rief er triumphierend.
Comte Inveglio vergrub das Gesicht in den Händen, und Cera schluckte, totenblass. »Also gut. Es wird Anklagen geben und Kerkerstrafen, aber keine Hinrichtungen«, sagte sie mit fester Stimme.
Mustaq verneigte sich und verließ mit schnellen Schritten die Ratshalle.
Cera gab Mustaq eine Woche und stellte ihm die Soldaten der Nesti zur Verfügung. Tag und Nacht durchstreiften Trupps die Straßen, durchsuchten Anwesen und Kellergewölbe, bis alle Beschuldigten verhaftet waren und die Verliese unter dem Königspalast aus allen Nähten platzten. Die Verfahren würden sich über Monate hinziehen. Und wie zu erwarten gewesen war, liefen die Dinge schließlich aus dem Ruder. Elena hatte den Verdacht, dass die Beamten, die die Liste mit den Verdächtigen führten, Bestechungsgelder von Leuten annahmen, die noch alte Rechnungen mit vermeintlichen Kollaborateuren zu begleichen hatten. Doch das war nicht einmal das Schlimmste: Manche der Namen gelangten auf dunklen Kanälen nach außen, und die Betreffenden wurden gelyncht, noch bevor irgendjemand etwas dagegen unternehmen konnte. Einmal mehr fühlte Elena sich an die Schattenseiten der Revolte erinnert, die sie endgültig hatte vergessen wollen.
Auch an Cera ging das alles nicht spurlos vorüber: An die Stelle ihres anfänglichen Zögerns trat eine Kälte und Rücksichtslosigkeit, die bei einer so jungen Frau erschreckend anzusehen waren. Elena hatte Angst um sie. Sie wird immer mehr wie ich damals während der Revolte …
Nach sieben Tagen hob Cera das Kriegsrecht wieder auf. Von nun an konzentrierten die Soldaten sich wieder darauf, den Frieden zu wahren. Die Straßen wurden von den Spuren der letzten Wochen gereinigt und die Opfer beerdigt. Der Wiederaufbau der zerstörten Gebäude jedoch dauerte etwas länger, und das Volk stand nicht mehr geschlossen hinter Cera – die Regentin begann, sich vor öffentlichen Auftritten zu fürchten. »Die Hälfte von ihnen hasst mich«, weinte sie in Elenas Armen.
Stoisch führte sie den Vorsitz bei den unzähligen Gerichtsverfahren und verurteilte die meisten bis auf wenige Ausnahmen, was ihr von manchen als Schwäche ausgelegt wurde, von anderen als Güte und Stärke. Es war unmöglich, es allen recht zu machen – eine alte Binsenweisheit, aber nur allzu wahr.
Am letzten Tag des Jahres hatte Timori sich so weit erholt, dass er nachts wieder allein sein konnte, solange Borsa direkt vor der Tür zu seinem Zimmer schlief. Cera war in die Königssuite gezogen, auch wenn es ihr sichtlich unangenehm war, in den Räumen ihrer toten Eltern zu schlafen. Elena bekam Rutt Sordells ehemalige Gemächer gleich daneben. Sie hasste ihre neue Unterkunft. Tarita wurde Elenas Dienstmädchen. Sie legte einen unerschütterlichen Humor an den Tag, den Elena dringend brauchte, vor allem an Tagen, an denen sie schmerzgebeugt von ihren morgendlichen Übungen zurückkam. Das Jhafi-Mädchen feierte kurz nach seiner Rettung seinen fünfzehnten Geburtstag, und es schien, als habe Tarita die Schrecken, die sie durchlebt hatte, schnell hinter sich gelassen. Sie konnte Tabula spielen, und das so gut, dass sie – sehr zu Elenas Verwirrung – meistens gewann. Eine schöne Strategin, die sich beim Spiel der Könige von ihrem Dienstmädchen schlagen lässt .
Lorenzo blieb weiterhin auf Abstand. Ob aufgrund dessen, was er Elena hatte tun sehen oder wegen Vedyas Einflussnahme auf ihn, war schwer zu sagen. Aber er blieb stets höflich. Solinde benahm sich unverändert wie eine vollkommen Fremde.
Cera erweiterte den Regentschaftsrat um mehrere Vertreter der Jhafi, darunter auch Mustaq al’Madhi. Sie bekräftigte Javons Teilnahme an der Blutfehde und sandte Boten zu Salim, dem Sultan von Kesh. Alfredo Gorgio wurde für vogelfrei erklärt, und das Haus Nesti bereitete sich auf einen Krieg gegen die Gorgio vor, auch wenn es nicht die Mittel dazu hatte.
Elena konnte sich nach wie vor keinen Reim auf Fernando Tolidis Tod machen, aber sie war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Solinde blieb unversöhnlich, also musste sie entweder vor Gericht gestellt oder stillschweigend aus
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