Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
wirkte verzweifelt und wollte mit niemandem sprechen. Elena hatte den beiden Nesti-Töchtern beigebracht, ihre Gedanken gegen neugierige Magi zu schützen, und jetzt verwendete Solinde die Technik, um sich gegen sie abzuschotten. Wie Solinde den Einsturz des Mondturms überlebt hatte, war Elena ein Rätsel. Vielleicht hatte sie einfach unfassbares Glück gehabt.
Mustaq und den anderen Anführern gelang es, die Jhafi von einem Angriff auf die Zitadelle abzuhalten, nur ein paar junge Heißsporne schossen Pfeile auf die Wachposten auf der Mauer. »Wartet, bis die Nesti hier sind«, lautete die Losung.
Doch die Gorgio kamen ihnen zuvor. Wenige Tage nach Elenas Angriff marschierte eine Legion unter Fanfaren zum Tor hinaus. Zenturie um Zenturie rückte über die Prachtstraße zum Dom-al’Ahm vor. Eine Kohorte sicherte die Flanken, während der Kommandant, geschützt von einer Schildkrötenformation, weiter bis zu den in der Mitte des Platzes errichteten Pfählen ritt. Jeder konnte die Leichen sehen: Anro Domlas kopfloser Körper hing verkehrt herum an einem Fleischerhaken, die Eingeweide um den Haken gewickelt. Mit einem dicken Nagel war ein Pergament an seinem Leichnam befestigt, auf dem stand: »Der Mann aus Stein.« Neben Anro hingen die grässlich zugerichteten Überreste von Benet und Terraux. »Die lästerlichen Zwillinge«, stand über ihnen geschrieben – eine Anspielung auf ein berüchtigtes Gleichnis aus dem Kalistham. Rutt Sordells Kopf steckte auf einem Pfahl, der Rest des Körpers war ein Stück darunter aufgespießt. »Königsmörder«, stand auf seinem Schild geschrieben. Auf dem Pfahl daneben war Vedyas makelloser Körper zur Schau gestellt. Die Aufschrift lautete: »Shaitans Hure.«
Am nächsten Tag flohen die Gorgio aus der Stadt.
Die Nachricht von der Flucht der Gorgio verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und einen Tag später führte Mustaq al’Madhi seine Männer unter größter Vorsicht in die Festung. Die ganz in Schwarz gehüllte Elena trugen sie auf einer Sänfte in ihrer Mitte. Es war deutlich zu spüren, wie die Krieger sie gleichzeitig verehrten und fürchteten. Trommeln und Zimbeln wurden geschlagen, Kinder führten Siegestänze auf, während die Männer jedes rimonische Haus plünderten, vor dem kein Nesti-Banner wehte, und diejenigen töteten, die sich öffentlich auf die Seite der Gorgio gestellt hatten. Es waren nur wenige, dennoch war es ein fürchterliches Massaker.
Als sie den Palast erreichten, arbeiteten sie sich vorsichtig durch die Trümmer des eingestürzten Mondturms und marschierten von dort weiter zum Haupttor, das einladend weit offen stand.
»Meine Männer haben bereits einen Teil des Geländes ausgekundschaftet, Dame Elena«, sagte Mustaq und half ihr aus der Sänfte, »aber wir sind nicht ganz sicher, wie wir weiter vorgehen sollen. Wenn Ihr uns bitte Euren Rat geben würdet?«
Elenas Hände zitterten, aber sie konnte gehen, und das Handgelenk war wieder belastbar. Auf einen Stab gestützt, humpelte Elena los, während ihre Gedanken schon den Palast durchkämmten. Überall lagen Trümmer. In einem verlassenen Innenhof fanden sie zerschnittenes Zaumzeug und durchlöcherte Harnische, in einem anderen zerschlagene Weinfässer: Alles, was die Gorgio nicht hatten mitnehmen können, hatten sie zerstört. Überall schlichen maunzende Katzen umher. An einer Stelle kämpften sie um ein paar Fleischbrocken, die sich bei näherem Hinsehen als die in der Mittagssonne verrottenden Arme und Beine einer eilig verscharrten Leiche herausstellten.
Mustaq gab ein Zeichen, und zwei Männer verscheuchten die wild fauchenden Katzen. Ein Tuch über Mund und Nase gepresst, begannen sie zu graben, und kurze Zeit später hatten sie den nackten Leichnam eines groß gewachsenen Mannes mit langem goldenem Haar freigelegt. Es war Fernando Tolidi, Solindes Geliebter.
Elena versuchte gerade, sich einen Reim darauf zu machen, da kam ein Trupp von Mustaqs Männern angerannt. Sie schrien und fuchtelten wild mit den Armen: Sie hatten noch weitere Leichen gefunden. Elena schlug sich die Hand vor den Mund und folgte ihnen.
Wie eine schwarze Wolke erhoben sich Hunderte Krähen vom Fuß des Königsturms, und die Jhafi erstarrten. Manche sanken wimmernd auf die Knie, und Elena würgte wegen des fürchterlichen Gestanks: Das Letzte, was die Gorgio vor ihrer Flucht getan hatten, war, alle Palastangestellten aus dem Volk der Jhafi zu töten. Elena wankte über den blutbesudelten Platz, und ein
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