Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
eins in jede Hand.
Ramita hob die Hände unter ihren Schleier, bedeckte mit den Blättern ihr Gesicht und rang mit der in ihr aufsteigenden Panik. Ich werde meiner Familie keine Schande machen.
Jai kam mit seinem Freund Baghi herein. Sie trugen leuchtendes Weiß und Orange, ihre Gesichter waren todernst. Sie beugten sich über Ramita und umfassten die Beine des Hockers. »Ek, do, tin«, flüsterte Jai, dann richteten sie sich auf. Ramita musste Huriyas Sari loslassen, und die beiden trugen sie schwankend hinaus auf den Innenhof, wo Geheul und das Tuten der Muschelhörner Ramita entgegenschlugen wie eine Wand. Sie sah die helle Robe ihres Bräutigams, wie er, umringt von seinen Wachen, in dem winzigen Innenhof stand.
Gemessenen Schrittes trugen Jai und Baghi sie sieben Mal um den Bräutigam herum, wie die Tradition es verlangte. Meiros, das Gesicht unter seiner Kapuze verborgen, folgte der Bewegung. Ramita nahm unter ihrem Schleier nur Ausschnitte wahr: Schweißperlen auf dem Gesicht ihres Vaters, Huriyas gierige Augen, ein Meer aus angespannten Gesichtern. Schließlich waren die sieben Umrundungen vollendet, und der Piri kam vor Meiros zum Stehen. Der Duft des Blumenkranzes um ihre Schultern stieg Ramita in die Nase. Sie hielt die Bananenblätter weiter vors Gesicht und wartete.
Meiros hob die Hände, um die Kapuze zurückzuschlagen, und die versammelte Menge hielt den Atem an. Endlich würden sie den geheimnisvollen Bräutigam sehen. Aber was immer sie auch erwartet haben mochten, bestimmt keinen alten Mann mit kalkweißer Haut. Ramita hörte mitleidige Ausrufe, aber auch zornige, während die Menge ungläubig zwischen Meiros’ Runzeln und ihrem faltenlosen Gesicht hin und her blickte. Gemurmel erhob sich: Wie kann Ispal es wagen, seine Tochter an diese bleiche Kreatur zu verkaufen? Es war ein Affront gegen die Natur selbst. Ramita spürte förmlich, wie die Atmosphäre im Innenhof sich auflud.
Pandit Arun schob sich an Meiros’ Wachsoldaten vorbei und legte dem Magus einen Blumenkranz um den Hals.
Ramita schloss die Augen. Jai und Baghi hoben den Schleier vor ihrem Gesicht und legten ihn über Meiros’ Kopf. Die Welt schrumpfte auf die Größe eines winzigen Käfigs zusammen, schummrig beleuchtet vom rötlichen Schimmern der Fackeln und Laternen rundum. Ramita nahm den Duft des Rosenwassers wahr, hörte Meiros’ Atem. Er riecht so alt.
Da ertönte Vikash Nooradins Stimme. In der Sprache von Rondelmar erklärte er Meiros die Zeremonie. »Edler Herr, die Braut wird jetzt enthüllt. Ihr müsst auf sie warten. Sie wird die Bananenblätter senken, wenn sie so weit ist, und Euch anblicken. Dann müsst Ihr die Blumenkränze austauschen.«
Es war nicht vorgeschrieben, dass die Braut sich beeilte, und einen Moment lang dachte Ramita darüber nach, auf ewig regungslos zu verharren.
»Nun, Mädchen?«, hörte sie Meiros’ rasselnde Stimme auf Lakhisch fragen.
Ramita schluckte. »Mein Vater sagt, Ihr seid kein böser Mensch«, brachte sie schließlich heraus.
Sie hörte ein leises Kichern. »Damit gehört er zu einer äußerst kleinen Minderheit. Ich sollte ihm wohl dankbar sein.«
»Stimmt es, was er sagt?«, wagte Ramita zu fragen.
Meiros schwieg, und als er schließlich antwortete, klang seine Stimme nachdenklich: »Ich unterteile die Menschen nicht in gut oder böse. Taten können gut oder böse sein, aber Menschen sind die Summe ihrer Taten und Absichten, Worte und Gedanken. Ich habe stets getan, wovon ich glaubte, es sei das Beste.« Er lachte bitter. »Doch nicht jeder ist dieser Meinung.«
Ramita öffnete die Augen und blickte auf die zitternden Palmblätter. »Werdet Ihr mich gut behandeln?«
»Ich werde dich mit allem Respekt behandeln, dich in Würde und Ehre halten, wie es dir als meiner Frau gebührt. Aber erwarte keine Liebe. Ich habe keine Liebe mehr in mir. Der Tod hat jene eingefordert, die ich einst liebte, und jetzt ist der Strom versiegt.«
»Vater sagt, Ihr hattet eine Frau und einen Sohn …«
»Meine Frau starb vor vielen Jahren. Meine Tochter ist unfruchtbar. Mein Sohn … wurde ermordet. Sie haben ihn gebannt, damit er sich der Gnosis nicht bedienen konnte, und dann gefoltert. Dann haben sie ihn abgeschlachtet und mir seinen Kopf geschickt.« Meiros’ Stimme klang jetzt nicht mehr flach, sie hallte wider von Verlust, Schmerz und Zorn. Doch dann verschwand jegliches Gefühl wieder, trocken sprach er weiter: »Ich bedaure es, dich dem Leben zu entreißen, das du dir vorgestellt
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