Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
hattest. Ich kann dir dieses Leben nicht geben, aber ich kann dein Leben angenehm machen und es mit wunderbaren Dingen füllen.«
Ich will keine wunderbaren Dinge, ich will Kazim .
»Wer ist Kazim?«, fragte Meiros.
Ramitas Herz setzte einen Schlag lang aus, als sie begriff, dass dieser Mann nicht nur ein Ferang war, sondern auch ein leibhaftiger Jadugara, ein Magus, der die Gedanken in ihrem Kopf sehen konnte. Angst durchzuckte sie wie ein Blitz. »Der Mann, den ich einmal heiraten sollte«, flüsterte sie.
»Das tut mir leid«, erwiderte er mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme. »Du musst verbittert sein, dein Leben so über den Haufen geworfen zu sehen, um als Zuchtstute für einen hässlichen alten Mann missbraucht zu werden. Daran kann ich nichts ändern. Ich kann dir lediglich versichern, dass auch dieses Leben seine Belohnungen bereithalten wird, mehr als du dir vorstellen kannst. Aber ich kann dir deine Träume nicht zurückgeben.«
Sie fielen in Schweigen. Die versammelten Hochzeitsgäste verhielten sich mucksmäuschenstill und versuchten angestrengt, die leisen Worte zu erhaschen, die zwischen dem Brautpaar gewechselt wurden. Würde sie ihn zurückweisen? Und was würde passieren, wenn sie es tat? Der Moment zog sich unendlich in die Länge.
Doch schließlich war irgendwo in Ramita das letzte Körnchen der Sanduhr gefallen. Kazim, vergib mir . Ganz langsam senkte sie die Palmblätter und blickte in die wässrig blauen Augen des Jadugara. Sie waren fremd und undurchdringlich, das graue Haar und der bleiche Bart dünn und strähnig. Sein Gesicht war kein bisschen zurechtgemacht, wie es die Tradition der Omali für einen Bräutigam verlangte. Seine Lippen waren dünn, sein Gebaren wirkte ungeduldig. Meiros’ Augen weiteten sich ein Stück, als er sie betrachtete.
Wie ich ihm wohl vorkomme mit meiner dunklen Haut, dem bemalten Gesicht, den Mustern auf meinen Händen und dem glitzernden Schmuck? Ob er mit seinen Jadugara-Augen bis in meine Seele sieht?
»Warum ich?«, flüsterte sie. »Ich bin nur die Tochter eines Händlers.«
Seine Augen hielten ihren Blick unbeirrt fest. »Ich brauche Kinder, dringend, und du hast die besten Voraussetzungen, mir welche zu schenken. Viele und schnell. Ich habe in die Zukunft geblickt und gesehen, dass der sicherste Weg für mich ist, möglichst schnell möglichst viele Nachkommen zu haben, mit einer Lakh-Frau. Und mit ›sicher‹ meine ich nicht meine eigene Sicherheit, sondern die der ganzen Welt. Für die Sicherheit Urtes braucht es Kinder, viele Kinder, aus derselben Blutlinie: unsere Kinder. Sie werden Magi sein, sie werden den Ordo Costruo einen und Frieden bringen. Ich habe lange gesucht, und du bist die Einzige, die die notwendigen Voraussetzungen mitbringt. Du bist fruchtbar und stammst vom richtigen Volk, und ich habe nicht mehr viel Zeit. Du und die Kinder, die wir haben werden, sind die Chance, die drohende Katastrophe noch einmal abzuwenden, wenn es nicht schon zu spät ist.«
»Ich bin also nur Eure Zuchtstute«, sagte Ramita tonlos.
»Es tut mir leid«, wiederholte Meiros. »Ich kann dich nicht mit einem Märchen von Glück und Liebe trösten. Das Einzige, was zählt, ist diese Tatsache: Du bringst die nötigen Voraussetzungen mit. Ich werde dich mit aller gebührenden Würde behandeln, aber ich muss Kinder haben, und das wird nicht mit gebührender Würde zu machen sein. Wenn du es wissen willst: Es beschämt mich. Ich wollte nie, dass es so kommt. Ich habe meinen Stolz. Ich sehe die Abscheu in deinen Augen, wenn du mich betrachtest. Ich bin kein greiser Lüstling, der eine Schwäche für junge Mädchen hat, aber ich habe keine andere Wahl. Glaub mir, ich wünschte, es wäre anders.« Er verstummte und lächelte beinahe. »Ich glaube, die beiden jungen Männer würden dich jetzt gerne wieder absetzen, Mädchen.«
Es war, als würden ihre Instinkte dem gelähmten Verstand die Entscheidung abnehmen. Mit zitternden Händen zog sich Ramita den orangefarbenen Blumenkranz über den Kopf und legte ihn mit einer linkischen Bewegung um Meiros’ Hals. Sie hörte, wie die Menge erleichtert seufzte. Ein paar jubelten, aber die meisten starrten das Brautpaar nur an. Dann wurde der Schleier weggezogen, und Ramita schwamm in einem Meer aus dunklen Gesichtern. Weiße Augen und Zähne schimmerten im Licht der Fackeln. Die Luft war so dick vom Rauch der Duftkerzen geschwängert, dass ihr das Atmen schwerfiel. Ramitas Wangen waren nass von Tränen, die sie
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