Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Lass meine Seele auf ewig hierbleiben und die leere Hülle meine sterblichen Tage zu Ende leben. Erhöre mein Gebet, heiliger Fluss. Falls der Imuna sie hörte, schien er nicht gewillt, Ramitas Wunsch zu erfüllen. Vielleicht war er aber auch zu beschäftigt damit, den Frauen zu lauschen, die für eine glückliche und kinderreiche Ehe beteten. Jedenfalls blieb Ramitas Seele, wo sie war: in ihrem frierenden Körper, der sich zurück ans Ufer schleppte und in eine wärmende Decke gehüllt wurde. Die betenden Frauen warteten, bis die Sonne sich golden über den Morgennebel erhob. Die ersten Strahlen ergossen sich über die kleine Gruppe und die tausend anderen auf den Ghats, und alle erhoben die Hände, um den neuen Tag zu preisen.
Jetzt gab es keine Ausflüchte mehr, nichts, was noch zu tun war. Ramita war wie betäubt, ganz und gar nicht bereit, trotz all der Gebete und Läuterungen. Tanuva und Pashinta zogen sie auf die Beine. Ihre Gesichter waren hart wie Stein. Die Zeit wartete nicht, nicht einmal auf Ramita.
Zu Hause fütterten ihre Eltern sie mit den Händen, dann führte Ispal sie schweigend ins Schlafzimmer, wo ein frisches Nachthemd lag, ein neues diesmal, und kein abgelegtes von Pashintas Töchtern.
Ramita drückte Ispals Hand, dann scheuchte sie ihn fort, wickelte sich aus der klammen Decke und streifte das jungfräuliche Leinengewand über. Wenige Augenblicke später schnarchte sie ebenso laut wie Huriya, die noch genauso über dem Stuhl hing wie zuvor.
Als Ramita erwachte, war es schon spät am Morgen. Huriya lag mit offenen Augen neben ihr. »Sal’Ahm«, flüsterte sie.
»Sal’Ahm«, erwiderte Ramita. Sie hatte einen Kloß im Hals. Mein Hochzeitstag. Ihr war leicht übel. Vor der Zeremonie würde sie nichts mehr hinunterbringen. Das nächste Mal, wenn ich etwas esse, bin ich mit einem vertrockneten Greis mit toten Augen verheiratet.
»Komm, wir packen die Geschenke aus«, drängte Huriya. »Und ich suche aus, was du anziehen wirst.« Sosehr sie Ramitas Schicksal auch bedauerte, Huriya konnte es kaum erwarten, nach Norden aufzubrechen und die Welt zu entdecken.
Sie würde nicht das Geringste tun, um diese Hochzeit zu verhindern, selbst wenn sie könnte.
Hand in Hand gingen sie nach unten und fanden die Küche in eifriger Betriebsamkeit. Zahnlückige Freunde und Tanten schaufelten stapelweise Kuchen und Gebäck von der Kochstelle, riesige Töpfe Daal wurden umgerührt, der Duft von Chili und Knoblauch lag in der Luft. Jai saß draußen und spielte mit seinen Freunden Karten, bis sie wieder für die nächste Aufgabe hereingerufen wurden, daneben stimmten die Musikanten ihre Instrumente. Ispal hatte die Koordination übernommen, gab Anweisungen und bezahlte die Helfer, aber das eigentliche Kommando hatte Ramitas Mutter, die ihren Mann unauffällig darauf hinwies, was noch zu tun war. Alle sangen oder tratschten, und der Lärm war so laut, dass Ramita sich fragte, wie in aller Welt sie so lange hatte schlafen können.
Als ihre Eltern Ramita entdeckten, kamen sie sofort angelaufen und umarmten sie. »Jeder Tag ist ein Geschenk«, flüsterte Ispal, »aber an diesen wirst du dich ganz besonders erinnern. Halte ihn in Ehren, geliebte Tochter.«
Wie soll ich? Aber sie setzte eine pflichtbewusste Miene auf, und gemeinsam gingen sie nach oben ins Zimmer der Zwillinge, einer muffigen kleinen Kammer ohne Fenster, in der sich Berge von Gemüse stapelten – und ihre Hochzeitsgeschenke. Ispal zündete eine Kerze an und zog die Decke von dem kantigen Haufen auf dem Bett. Ramita schnappte nach Luft, und Huriya klatschte aufgeregt in die Hände: Der Schein der Flamme spiegelte sich in goldenem Brokat, funkelnden Juwelen, silbernen Kelchen und kleinen Messingfiguren.
»Geschenke«, sagte Ispal heiser, »Geschenke von Antonin Meiros an seine künftige Frau.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Du wirst die schönste Braut sein, die Baranasi je gesehen hat.«
Ramitas Mund stand offen. Noch nie hatte sie so viel Reichtum auf einem Haufen gesehen oder auch nur davon geträumt, einmal selbst so viel zu besitzen. Sie war sprachlos.
»Sie haben Vikash Nooradin Geld gegeben«, flüsterte Ispal, »dann ist er mit seiner Frau in die teuersten Geschäfte gegangen, wo sonst nur die Prinzen einkaufen. Der Bulle von Ferang-Hauptmann hat ihn begleitet. Vikash meinte, seine Frau sei beinahe ohnmächtig geworden, als sie das erste Geschäft betraten. Komm, such dir was aus. Du auch, Huriya, denn auch du bist meine Tochter.
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