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Die Brücke

Die Brücke

Titel: Die Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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der blauen Ferne sowohl in Richtung City als
auch in Richtung Königreich verschwanden (beide unsichtbar; ich
habe kein Land mehr gesehen, seit ich hier angespült wurde, es
sei denn, man rechne die kleinen Inseln, die jeden dritten
Brückenabschnitt stützen, als Land). Ziemlich hoch ist sie
auch, mindestens eintausendfünfhundert Fuß. Sechs- oder
siebentausend Menschen leben in jedem Abschnitt, und es ist
wahrscheinlich Raum – und genügend Spielraum in den
statischen Berechnungen der Ur-Struktur – für eine noch
höhere Bevölkerungsdichte.
    Form: Ich werde die Brücke mit Buchstaben beschreiben. Im
Querschnitt sieht die Brücke an den dicksten Stellen ganz wie
der Buchstabe A aus; das Zugdeck bildet den Querstrich des A. Im
Aufriß besteht der mittlere Teil jedes Abschnitts aus einem H,
das über einem X liegt; zu jeder Seite entsprießen diesem
Zentrum sechs weitere Ixe, die in der Größe nach und nach
abnehmen, bis sie auf die schlanken Verbindungsbogen treffen (von
denen jeder neun kleine Ixe hat). Die Extremitäten eines jeden X
miteinander verbindend, liefern sie recht gut eine Silhouette der
allgemeinen Form: He presto! Die Brücke!
    »So?« Dr. Joyce blinzelt. »›Sie ist sehr
groß.‹ Ist das alles?«
    »Es ist alles, was ich zu wissen brauchte.«
    »Aufgegeben haben Sie doch.«
    »Weiterzumachen wäre die Handlungsweise eines Besessenen
gewesen. Jetzt werde ich nichts mehr tun, als mich zu vergnügen.
Ich habe ein sehr hübsches Apartment, eine recht anständige
Unterhaltsbeihilfe von der Klinik, die ich für Dinge verwende,
die mich amüsieren oder die ich schön finde. Ich besuche
Galerien, ich gehe ins Theater, in Konzerte, ins Kino. Ich lese, ich
habe ein paar Freunde gefunden, hauptsächlich unter den
Ingenieuren. Ich treibe Sport, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Ich
hoffe, in den Yacht-Club aufgenommen zu werden… ich
beschäftige mich. Da kann man wirklich nicht sagen, daß
ich irgend etwas ablehne. Ich bin mitten drin, und ich habe viel
Spaß.«
    Dr. Joyce steht auf, überraschend fix, wirft das Notizbuch
auf seinen Schreibtisch und fängt an, hinter ihm auf- und
abzuwandern, zwischen den vollgestopften Bücherschränken
auf der einen und den schimmernden Rollos auf der anderen Seite. Er
läßt seine Knöchel knacken. Ich betrachte meine
Fingernägel. Er schüttelt den Kopf.
    »Ich glaube, Sie nehmen das nicht ernst genug, Orr«,
stellt er fest. Er tritt an eines der Fenster, zieht das Rollo
zurück, enthüllt einen sonnigen Tag, blauen Himmel und
weiße Wolken.
    »Kommen Sie her!« verlangt er. Mit einem Seufzer und
einem kleinen Lächeln, das sagt: »Oh, schon gut, wenn es
Sie glücklich macht«, geselle ich mich zu dem guten Doktor
am Fenster.
    Vor uns und beinahe tausend Fuß weiter unten liegt das Meer,
grau-blau und gekräuselt. Ein paar Yachten und Fischerboote
tupfen die Fläche. Seemöwen kreisen. Der Doktor zeigt
jedoch zur Seite (eine Seite seines Sprechzimmers springt vor, so
daß er an der Brücke entlangsehen kann).
    Der Klinik-Komplex, von dem die Räume des Doktors einen Teil
bilden, steht etwas von dem Hauptbauwerk ab wie ein energisch
wachsender Tumor. Von hier, in einem so spitzen Winkel gesehen, geht
die Eleganz und Anmut der Brücke unter, und sie scheint nichts
weiter als überhäuft und zu massig zu sein.
    Ihre schrägen Flanken erheben sich, rostrot und gerippt, aus
den Granitsockeln, die fast tausend Fuß tiefer ins Meer gesetzt
sind. Diese gegitterten Teile sind vollgestopft mit Klumpen
sekundärer und tertiärer Architektur, Gehwegen und
Aufzugschächten, Schornsteinen und Kranbrücken,
Seilförderanlagen und Röhren, Antennen und Bannern und
Flaggen aller Formen, Größen und Farben. Es gibt kleine
Gebäude und große, Büros, Krankensäle,
Werkstätten, Wohnungen und Läden, alle wie eckige Napf
Schnecken aus Metall, Glas und Holz an den massigen Rohren und
Trägern der Brücke selbst klebend, zwischen den
rotgestrichenen Gliedern des ursprünglichen Bauwerks
eingezwängt und gedrückt und gequetscht wie scharfkantige
Brüche, die zwischen immensen Muskelansammlungen
hervorspringen.
    »Was sehen Sie?« fragt Dr. Joyce. Ich spähe hinaus,
als sei ich aufgefordert worden, die detaillierte Pinselarbeit auf
irgendeinem berühmten Gemälde zu bewundern.
    »Doktor«, antworte ich, »ich sehe eine verdammt
große Brücke.«
    Dr. Joyce zieht heftig an der Schnur, reißt sie oben ab und
läßt das Rollo offen. Er saugt den Atem ein. Er kehrt zu
seinem Schreibtisch

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