Die Brücke
sie.
»Was denn?«
»Daß man hier die Sterne nicht richtig sehen
kann.« Sie nickt gedankenverloren. »Hier ist zuviel Licht,
es sei denn, man fährt aufs Meer hinaus. Aber die
Universität lag inmitten von Farm-Abschnitten, und des Nachts
war es dort ganz dunkel.«
»Von Farm-Abschnitten?«
»Sie wissen doch.« Abberlaine Arrol tritt mit
übereinandergeschlagenen Armen von ihrem Werk zurück.
»Gebiete, wo man Nahrungsmittel anbaut.«
»Ja, natürlich.« Ich bin nie auf die Idee gekommen,
daß andere Abschnitte der Brücke dem Anbau von
Nahrungsmitteln dienen könnten. Schwierigkeiten gäbe es
dabei nicht. Vielleicht wären Windbrecher oder sogar Spiegel
notwendig, um auf verschiedenen Ebenen Ackerbau zu treiben, und das
beste Medium wäre Wasser, nicht Erde, aber möglich
wäre es.
Die Brücke könnte also durchaus in der Versorgung mit
Nahrungsmitteln autark sein. Mein Gedanke, ihre Länge sei durch
die Zeit begrenzt, die ein schneller Güterzug braucht, um jeden
Tag frische Produkte heranzuschaffen, war danach irrelevant. Die
Brücke kann jede Länge haben, die ihr beliebt.
Abberlaine Arrol steckt sich eine dünne Zigarre an. Der eine
bestiefelte Fluß klopft auf den Metallboden. Sie wendet sich
mir zu, faltet wieder die Arme unter den von Bluse und Jacke
verhüllten Konturen ihrer Brüste, ihr Rock schwingt,
schwingt zurück, ein schweres und teures Tuch. Über dem
duftenden Zigarrenrauch liegt die Andeutung eines leichten
Tagesparfums. »Nun, Mr. Orr?«
Ich sehe mir Miss Arrols fertige Zeichnung an.
Sie hat den weiten Rangierbahnhof skizziert und dann
verändert; die Gleise sehen wie Schlingpflanzen in einem
Dschungel aus, die alle zu Boden gefallen sind. Die Züge sind
groteske, knorrige Dinge wie Riesenmaden oder zerfallende
Baumstämme. Die Träger und Rohre oben werden zu Ästen
und Zweigen, verschwinden in dem Rauch, der von dem Dschungelboden
aufsteigt. Es ist ein großer, höllischer Wald. Eine
Lokomotive hebt sich wie ein Ungeheuer, eine fauchende, feurige
Eidechse aus dem Boden. Die kleine, verängstigte Gestalt eines
Mannes läuft vor ihr davon. Sein Miniatur-Gesicht, gerade noch
zu erkennen, ist zu einem Entsetzensschrei verzerrt.
»Sehr viel Phantasie«, stelle ich nach kurzem Nachdenken
fest. Sie lacht leise.
»Es gefällt Ihnen nicht.«
»Mein Geschmack ist vielleicht zu literarisch. Die
Qualität der Zeichnung ist beeindruckend.«
»Das weiß ich«, sagt Miss Arrol. Ihre
Stimme klingt scharf, aber ihr Gesicht sieht ein bißchen
traurig aus. Ich wünschte, das Bild gefiele mir besser.
Aber welche Signalwirkung Miss Abberlaines graugrüne Augen
besitzen! Sie betrachten mich jetzt mit einem Ausdruck, der beinahe
Mitleid ist. Ich glaube, ich mag die junge Dame sehr gern.
Sie sagt: »Ich habe es für Sie gemacht.« Sie greift
in ihre Tasche, holt einen Lumpen heraus und säubert sich die
Hände.
»Wirklich?« Ich bin ehrlich erfreut. »Das ist sehr
freundlich von Ihnen. Danke schön.«
Sie nimmt die Zeichnung von der Staffelei und rollt sie zusammen.
»Sie haben meine Erlaubnis, damit zu tun, was immer sie
wollen«, erklärt sie sarkastisch. »Machen Sie
Papierflugzeuge daraus.« Sie reicht sie mir.
»Das mache ich ganz bestimmt nicht«, erwidere ich. Mir
ist zumute, als sei mir soeben ein Diplom überreicht worden.
»Ich werde das Bild rahmen lassen und in meinem Apartment
aufhängen. Es gefällt mir schon sehr viel besser, jetzt, wo
ich weiß, daß es für mich gezeichnet worden
ist.«
Abberlaine Arrols Abgang amüsiert mich. Diesmal wird sie von
dem Wagen eines Gleis-Ingenieurs abgeholt, einem wunderlichen,
elegant verglasten und verschalten Wagen voller komplizierter, aber
archaischer Instrumente, alle aus glänzendem Messing, klirrende
Waagen und Papiertrommeln, die an kritzelnden Schreibstiften
vorbeirollen. Zischend und ratternd kommt er zum Stehen, eine
Falttür öffnet sich, und ein junger Wachtposten salutiert
Miss Arrol, die auf dem Weg zum Lunch mit ihrem Vater ist. Ich halte
die Staffelei, die ich laut Anweisung in den Schuppen
zurückbringen soll. Ihre Tasche baucht sich vor
zusammengerollten Eisenbahn-Zeichnungen, die bestellten Bilder,
für die sie eigentlich hergekommen ist und an denen sie
fleißig gearbeitet hat – wobei sie sich weiter mit mir
unterhielt –, nachdem sie meine Zeichnung fertiggestellt hatte.
Sie stellt einen Stiefel auf die höchste Stufe des Wagens und
streckt mir die Hand hin.
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Mr. Orr.«
»Ich danke
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