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Die Brücke

Die Brücke

Titel: Die Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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etwas Merkwürdiges; ich werfe einen Blick auf mein
gewaschenes Taschentuch und stopfe es in eine freie Tasche. Miss
Arrol lächelt vor sich hin, nicht mich an. Ich habe den
beunruhigenden Eindruck, daß mir hier etwas entgangen ist.
    »Danke«, sage ich.
    »Sie könnten mir die Staffelei tragen, Mr. Orr. Ich habe
sie letzte Woche da drüben stehengelassen.« Wir
überqueren mehrere Spuren zu einem kleinen Schuppen, der fast im
Mittelpunkt des breiten, ganz von Gleisen überzogenen
Rangierbahnhofs steht. Um uns fahren aneinandergekuppelte Wagen und
abgekuppelte Lokomotiven langsam vor und zurück; anderswo sinken
ganze Lokomotiven auf Bühnen, die an schweren Flaschenzügen
hängen, durch das Deck nach unten, wo sie zu den
Werkstätten unterhalb der Gleise transportiert werden.
    »Was halten Sie von unseren seltsamen Ballons, Mr. Orr?«
fragt Miss Arrol mich unterwegs.
    »Ich vermute, sie sollen die Flugzeuge aufhalten, obwohl ich
nicht weiß, warum sie nur auf der einen Seite angebracht
sind.«
    »Auch sonst weiß das anscheinend niemand«, meint
Miss Arrol nachdenklich. »Wahrscheinlich wieder einmal eine
Pfuscherei von der Regierung.« Sie seufzt. »Nicht einmal
mein Vater hatte etwas von ihnen gehört, und er ist für
gewöhnlich recht gut informiert.«
    Vor dem kleinen Schuppen findet sie ihre Staffelei wieder. Ich
transportiere das A-förmige Gebilde zu dem von ihr
ausgewählten Aussichtspunkt. Anscheinend hat sie sich als Sujet
einen der schweren Lokomotiv-Aufzüge ausgewählt. Sie stellt
die Staffelei und ihren kleinen Faltstuhl auf, öffnet ihre Mappe
und enthüllt Flaschen mit Farbe und eine Auswahl von Blei-,
Kohle- und Buntstiften. Sie betrachtet die Szene mit kritischem Blick
und entscheidet sich für einen Kohlestift.
    »Keine weiteren üblen Nachwirkungen von unserem kleinen
Zusammenstoß neulich, Mr. Orr?« Sie zieht eine Linie auf
dem grauweißen Papier.
    »Eine gewisse konditionierte Nervosität beim Erklingen
von schnellen Rikscha-Absatzhupen, weiter nichts.«
    »Ein vorübergehendes Symptom, davon bin ich
überzeugt.« Sie läßt ein Lächeln von
richtig überwältigendem Charme los und wendet sich wieder
der Staffelei zu. »Wir sprachen vom Reisen, bevor wir so rauh
unterbrochen wurden, nicht wahr?«
    »Ja. Ich… ich hatte Sie gerade fragen wollen, wie weit
Sie gereist sind.«
    Abberlaine Arrol fügt ihrer Zeichnung ein paar kleine Kreise
und Bogen hinzu. »Bis zur Universität.« Sie zieht
schnell ein paar sich kreuzende Linien über das Papier.
»Das war ungefähr…« – sie zuckt die Achseln
– »hundertundfünfzig… zweihundert Abschnitte
entfernt. Citywärts.«
    »Konnten Sie… konnten Sie von da Land sehen?«
    »Land, Mr. Orr…« – sie streift mich mit
einem Blick – »du meine Güte, sind Sie ehrgeizig.
Nein, ich konnte kein Land sehen, abgesehen von den üblichen
Inseln.«
    »Glauben Sie, es gibt gar kein Königreich und auch keine
City?«
    »Oh, ich könnte mir vorstellen, daß beide irgendwo
existieren.« Weitere Linien.
    »Haben Sie nie den Wunsch verspürt, sie zu
sehen?«
    »Kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht mehr, seit ich es
aufgegeben habe, Lokomotivführer werden zu wollen.« Sie
schattiert Stellen der Zeichnung. Ich erkenne eine Reihe von sich
wölbenden Ixen, eine Andeutung von wolkenverhangenen Höhen.
Sie zeichnet schnell. Über die sahnefarbene Haut ihres blassen,
schlanken Nackens kräuseln sich ein paar der Mütze
entschlüpfte Haarsträhnen wie die verwickelten Züge
einer unbekannten Schrift.
    »Wissen Sie«, erzählt sie, »ich kannte einmal
einen Ingenieur – ziemlich hoch im Rang –, der glaubte,
das, worauf wir leben, sei in Wirklichkeit gar keine Brücke,
sondern ein einziger großer Felsen inmitten einer nicht zu
durchquerenden Wüste.«
    »Hmm.« Ich bin mir nicht sicher, wie ich darauf
reagieren soll. »Vielleicht ist die Brücke für jeden
von uns etwas anderes. Was sehen Sie?«
    »Dasselbe wie Sie.« Miss Arrol wendet sich mir kurz zu.
»Eine verdammt große Brücke. Was zeichne ich Ihrer
Meinung nach denn hier?« Sie wendet sich wieder ab.
    Ich lächele. »Oh, etwas, das ein bißchen weniger
Tiefe als einen Faden hat, schätze ich.«
    Ich höre sie lachen. »Und Sie, Mr. Orr?«
    »Meine eigenen Schlußfolgerungen.« Das trägt
mir ihr aufblitzendes Lächeln ein. Eine Weile widmet sie sich
ganz ihrer Zeichnung, dann blickt sie nachdenklich hoch.
    »Wissen Sie, was mir am meisten fehlt, seit ich die
Universität verlassen habe?« fragt

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