Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Veranstaltung mit wenigen Zuschauern handeln würde und dass sie sich daher mühelos finden würden. Jetzt in der jubelnden Menge würde es einige Zeit dauern.
Da sie so spät dran waren, sahen sie nicht viel von der Parade. Sie meinten, den berühmten General von Lettow-Vorbeck auf einem Schimmel wiederzuerkennen. Hinter ihm ritten weitere ranghohe Offiziere, dann kamen mehrere Hundert Mann in Uniform mit wehenden Regimentsfahnen.
Im Grunde entging ihnen das gesamte Geschehen. Nicht einmal Damen war es möglich, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Es wurde eine Rede gehalten, von der sie kein Wort verstanden, dann wurde gejubelt, applaudiert und Hurra gerufen. Anschließend schien sich die ganze Versammlung aufzulösen.
»Mit dem Militarismus ist es nicht weit her«, meinte Christa.
»Wer weiß. Vielleicht haben sie ja eine sofortige Revanche befürwortet. Wir haben ja nichts gehört«, erwiderte Ingeborg.
Im Durcheinander der sich zerstreuenden Menge strebte Ingeborg dem Brandenburger Tor entgegen. Da sie sich mit Lauritz nicht auf einen bestimmten Treffpunkt geeinigt hatte, musste dies logischerweise der Ort sein, um einander zu suchen.
Das erwies sich als richtig. Dort stand er in der sich lichtenden Menge mit Zylinder und schwarzem Mantel wie ein Zinnsoldat in Zivil, etwas korpulent, wie es einem wohlhabenden Mann anstand. Zumindest einem ehedem vermögenden
Mann, Ingeborg kannte die genauen Zahlen nicht. Um ihn herum standen die Kinder in ihren Sonntagskleidern, Harald, neun Jahre alt, ebenfalls aufrecht wie ein Zinnsoldat, Johanne, die gerade eingeschult worden war, in einem viel zu dünnen, aber natürlich sehr hübschen Sommerkleid, Karl, sechs Jahre alt, im Matrosenanzug, und Rosa, vier Jahre alt in einem weiten, aber sicher sehr praktischen Mäntelchen. Sie winkten fröhlich, als sie ihre Mutter und deren beste Freundin entdeckten.
Es wurde eine sentimentale Begegnung, schließlich kannte Christa die Kinder nur aus Ingeborgs Briefen. Jetzt traf sie sie zum ersten Mal und vergoss viele Tränen, als sie eines nach dem anderen umarmte.
Die Kinder waren ob dieser überraschenden Intimität vonseiten einer Erwachsenen, die sie nicht kannten und von der sie nur hin und wieder einmal gehört hatten, etwas verstört.
Lauritz hielt sich während dieser überraschend emotionalen Zeremonie im Hintergrund. Begrüßte man die Kinder wirklich zuerst?
Er verbeugte sich und küsste dann, möglicherweise etwas ironisch, Christa die Hand und erklärte, möglicherweise mehr im Scherz als ironisch, er sei überaus entzückt, die gnädige Freiherrin nach all den Jahren wiederzutreffen.
»Insbesondere im Hinblick darauf, in was für eine unvergleichliche Intrige du uns beide damals reingezogen hast«, sagte er, und alle lachten.
»Schließlich hat ja auch in Kiel unter den Seeleuten der kaiserlichen Flotte die Revolution begonnen«, meinte Christa.
Lauritz lächelte verunsichert, er erkannte keinen Sinn
darin, auf den Aufstand der Kieler Matrosen hinzuweisen, und fand Christas Ironie doch etwas gewagt.
Es entstand eine Pause. Niemandem fiel etwas Erwähnenswertes ein. Sie standen unter dem Brandenburger Tor und lächelten einander verlegen an.
Da näherte sich ein Mann in der Uniform eines Hauptmanns, der vermutlich an der Parade teilgenommen hatte. Er ging mit energischen Schritten auf Lauritz zu, der wie versteinert dastand und ihn anstarrte. Ingeborg konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
Die beiden Männer fielen einander um den Hals, umarmten sich innig und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Keiner sprach ein Wort. Als sie voneinander abließen, bemerkten die anderen, dass sie beide weinten und sich die Tränen mit dem Handrücken abwischen mussten.
»Das hier«, sagte Lauritz mit schwacher Stimme, »ist mein Bruder Oscar, der gerade aus Afrika zurückgekehrt ist. Darf ich vorstellen, Christa Freiherrin von …«
»Ach was!«, sagte Christa und reichte ihm ihre Hand zum Kuss. »Wir sind uns schließlich in unserer grünen Jugend schon einmal begegnet.«
Ingeborg umarmte Oscar und küsste ihn auf beide Wangen. Dann stellte sie ihm ein Kind nach dem anderen vor.
Sie konnte sich an Oscar noch schwach aus der Dresdner Zeit erinnern. Aber damals war er noch ein Junge gewesen. Jetzt stand, den Orden nach zu urteilen, ein Held vor ihr, der noch dazu wie ein Held aussah. Er hatte breite Schultern, war größer als Lauritz und außerdem bedeutend schlanker. Sein Gesicht war zerfurcht und von
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