Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Narben übersät, und die Augen hatten einen fast traurigen Ausdruck. Ein Mann, der sehr viel durchgemacht hatte. Ingeborg
warf einen Blick zu Christa hinüber und stellte rasch fest, dass sie denselben Eindruck gewonnen hatte oder die Situation genauso analysierte, um Christas Jargon zu benutzen, wie sie. Sie wirkte geradezu überwältigt.
»Und?«, meinte Oscar und breitete die Arme aus. »Alles, was ich noch besitze, sind die Kleider, die ich auf dem Leib trage. Die Engländer haben mir in Afrika alles weggenommen. Ich kann heute Abend also leider nicht die Zeche zahlen.«
»Du hast keinen Grund, dir Sorgen zu machen«, meinte Lauritz. »Du hast eine bedeutende Goldreserve im Tresorgewölbe der Norske Bank in Bergen liegen. Du bist Teilhaber dreier Baufirmen, unter anderem von Heckler & Dornier hier in Deutschland. Es wird neue Brücken geben, mach dir keine Gedanken, die Welt wird wieder aufgebaut werden, Ingenieure werden gebraucht. Was Dornier betrifft, so erwägen wir, mit dem Bau von Flugzeugen zu beginnen.«
»Ausgezeichnete Idee«, erwiderte Oscar sichtlich erleichtert. »Ich bin mir sicher, dass den Flugzeugen eine strahlende Zukunft beschieden ist.«
Damit endete ihre Unterhaltung, da sie es beide etwas peinlich fanden, in Damengesellschaft von Geschäften zu sprechen. Das Notwendigste war jedenfalls gesagt, und Oscars Erleichterung war deutlich spürbar. Innerhalb einer Sekunde war aus einem möglicherweise mittellosen ein erneut sehr vermögender Mann geworden.
In diesem Augenblick hätte man auf alltäglichere Dinge zu sprechen kommen können, wie das kühle Frühjahr oder welches Restaurant sie besuchen wollten. Stattdessen nahm Lauritz Oscar zur Seite und begann sich flüsternd
mit ihm zu unterhalten. Die anderen sahen fragend zu ihnen hinüber. Oscar nickte nachdenklich und betrachtete dann die Kinder.
Dann trat er unvermittelt auf Harald zu und beugte sich vor, sodass sein großes, schwarzes Halskreuz mit Silberkante vor den Augen des Jungen baumelte.
»Das Großkreuz des Eisernen Kreuzes!«, rief Harald beeindruckt und deutete auf den Orden. »Und das Eiserne Kreuz erster Klasse!«, fuhr er ebenso aufgeregt fort.
Meine Güte!, dachte Ingeborg, wo lernen die kleinen Jungen das alles nur?
»Ganz richtig, mein lieber Neffe«, erwiderte Oscar auf Deutsch.
Bislang hatten sie nur deutsch gesprochen, was angesichts von Christas Anwesenheit eine Selbstverständlichkeit war. Aber jetzt wechselte Oscar plötzlich ins Norwegische, als er Harald an seinen dünnen Schultern fasste und fragte:
»Aber so ein kluger kleiner Neffe kann mit seinem Onkel Oscar doch wohl auch norwegisch sprechen?«
»Natürlich können wir norwegisch sprechen, Onkel Oscar. Ich bin nicht nur Deutscher, ich bin ebenso sehr Norweger!«, antwortete er in ausgeprägt westnorwegischem Dialekt, in dem er auch angesprochen worden war. Der Sprache, die ihm seit zwei Jahren nicht mehr über die Lippen gekommen war.
NACHBEMERKUNG
Ein besonderer Dank gebührt vier Autoren, die mir eine unschätzbare Hilfe waren. Im Jahr 1924, lange nach seinen Erlebnissen auf der Hardangervidda, veröffentlichte Oberingenieur Sigvard Heber seine Erinnerungen in Buchform: »Da Bergensbanen blev til – Fem aars ingeniørliv paa høifjeldet« (Als die Bergenbahn gebaut wurde – Fünf Jahre als Ingenieur im Hochgebirge; es gibt eine norwegische Faksimileausgabe, herausgegeben von der Stiftung Rallarmuseet in Finse).
Sigvard Hebers einzigartiges Buch ist eine kulturhistorische Leistung. Anschaulich und fesselnd beschrieb er die Mühen des Alltags während der letzten fünf Jahre des Eisenbahnbaus. Eine meiner Hauptpersonen, Diplomingenieur Lauritz Lauritzen, hat hundert Jahre später die Erfahrungen seines Kollegen Heber übernommen und dieselben Beobachtungen gemacht. Ich habe nicht im Geringsten versucht, diese wichtige Quelle zu kaschieren, im Gegenteil. Das halte ich für eine wohlverdiente Huldigung, eine Art, Hebers Erzählung wiederauferstehen zu lassen.
Gunnar Staalesen schrieb eine in Norwegen viel gelesene historische Romantrilogie mit Schauplatz Bergen (nicht ins Deutsche übersetzt), die auf einer sehr umfangreichen Recherche zusammen mit dem Grafiker und Lokalhistoriker Jo Gjerstad basiert. Ihr Kommentarbuch zu der Romantrilogie »Hundreårsboken« (Hundertjahrbuch, Gyldendal, 2000) war für mich die reinste Goldgrube. Aus dem ersten Teil von Staalesens Trilogie »1900 – Morgenrød« (1900 – Morgenrot) habe ich ganz unbescheiden und
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