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Die Brueder Karamasow

Die Brueder Karamasow

Titel: Die Brueder Karamasow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodr Michailowitsch Dostojewski
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gestorben. Und für das vergossene Blut habe ich durch meine Qualen genug gebüßt. Und man würde mir auch gar nicht glauben, keinen meiner Beweise wird man gelten lassen. Ist es nötig, daß ich mich stelle, wirklich nötig? Ich bin bereit, mich zur Strafe für das vergossene Blut noch mein ganzes restliches Leben zu quälen, nur um nicht meine Frau und meine Kinder zugrunde zu richten. Wäre das gerecht, wenn ich sie mit ins Verderben ziehe? Irren wir uns da nicht? Wo ist da Recht und Gerechtigkeit? Würden die Menschen meine Wahrheitsliebe überhaupt anerkennen, schätzen, ehren?«
    ›O Gott‹, dachte ich bei mir, ›in so einem Augenblick denkt er noch an die Achtung der Menschen!‹ Und er tat mir so leid, daß ich gern sein Los mit ihm geteilt hätte, wenn ich es ihm dadurch hätte erleichtern können. Ich sah, daß er überaus erregt war, und war zutiefst erschrocken, weil ich nicht mehr allein mit dem Verstand, sondern mit der lebendigen Seele begriff, was einen Menschen ein solcher Entschluß kostet.
    »Entscheiden Sie mein Schicksal!« rief er wieder.
    »Gehen Sie hin und stellen Sie sich!« flüsterte ich ihm zu. Die Stimme gehorchte mir nicht, aber ich flüsterte in entschiedenem Ton.
    Dann nahm ich das Neue Testament in russischer Übersetzung vom Tisch und schlug die Stelle Johannes, Kapitel zwölf, Vers vierundzwanzig auf: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde gefallen, nicht erstirbt, so bleibt es allein. Wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht.«
    Er las den Vers.
    »Das ist richtig«, sagte er, lächelte jedoch dabei bitter. »Ja, es ist schrecklich«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »was man in diesen Büchern alles für Sprüche findet. Es ist leicht, sie einem unter die Nase zu halten. Wer hat sie denn geschrieben? Doch wohl Menschen?«
    »Der Heilige Geist hat sie geschrieben«, antwortete ich.
    »Sie haben gut reden«, sagte er, immer noch lächelnd, aber schon beinahe voller Haß.
    Ich nahm das Buch wieder, schlug es an einer anderen Stelle auf und wies ihn auf den Brief an die Hebräer, Kapitel zehn, Vers einunddreißig hin.
    Er las: »Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.«
    Er las das und schleuderte das Buch geradezu von sich, dabei zitterte er sogar.
    »Da haben Sie einen furchtbaren Vers ausgewählt«, rief er, »das muß man schon sagen!« Er stand von seinem Stuhl auf: »Nun, leben Sie wohl!« sagte er. »Vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen. Im Paradies werden wir uns wiedersehen. Also vierzehn Jahre ist es her, daß ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin. Ja, das kann man mit Recht von diesen vierzehn Jahren sagen. Morgen werde ich diese Hände bitten, mich freizusprechen.«
    Ich hätte ihn gern umarmt und geküßt. Aber ich wagte es nicht, so verkrampft war sein Gesicht, so starr sein Blick.
    Er ging hinaus.
    ›Mein Gott!‹ dachte ich. ›Wohin ist dieser Mensch gegangen?‹ Dann warf ich mich vor dem Heiligenbild auf die Knie und betete für ihn unter Tränen zu der Allerheiligsten Muttergottes, der Beschützerin und Helferin.
    Wohl eine halbe Stunde mochte über meinem Gebet vergangen sein, und es war schon spät in der Nacht, gegen zwölf Uhr. Da öffnete sich plötzlich meine Tür, und er trat wieder herein.
    »Wo sind Sie gewesen?« fragte ich ihn erstaunt.
    »Ich habe«, sagte er, »ich habe etwas vergessen, glaube ich. Mein Taschentuch, glaube ich ... Nun, wenn ich auch nichts vergessen habe, so gestatten Sie bitte doch, daß ich mich setze ...«
    Er setzte sich auf einen Stuhl. Ich stand vor ihm.
    »Setzen Sie sich auch!« sagte er.
    Ich setzte mich. So saßen wir etwa zwei Minuten; er sah mich unverwandt an und lächelte auf einmal, das habe ich im Gedächtnis behalten. Dann stand er auf, umarmte mich fest und küßte mich.
    »Vergiß das nicht«, sagte er, »daß ich zum zweitenmal zu dir gekommen bin. Hörst du, vergiß das nicht!« Zum erstenmal hatte er mich »du« genannt.
    Er ging hinaus. ›Morgen wird er es tun!‹ dachte ich.
    Und so geschah es denn auch. Ich wußte an diesem Abend nicht, daß gerade auf den nächsten Tag sein Geburtstag fiel. Ich selbst war in den letzten Tagen nicht ausgegangen und hatte es daher von niemand erfahren können. An diesem Tag fand bei ihm alljährlich eine große Gesellschaft statt.
    Und da trat er nun nach dem festlichen Mittagessen in die Mitte der Gäste, in der Hand ein Schriftstück, das eine formelle Anzeige enthielt. Und

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