Die Brueder Karamasow
muß!‹
Er wartete etwa zwei Minuten lang; sein Herz schlug furchtbar, und zeitweilig glaubte er zu ersticken. ›Nein, das Herzklopfen wird nicht aufhören‹, dachte er. ›Ich kann nicht länger warten!‹ Er stand hinter einem Strauch im Schatten; die vordere Hälfte des Strauches war vom Fenster her erleuchtet. »Das ist ein Schneeballstrauch, wie rot die Beeren sind!« flüsterte er vor sich hin, ohne zu wissen, warum. Leise, mit unhörbaren Schritten, trat er ans Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen. Fjodor Pawlowitschs Schlafzimmer lag vor Ihm wie auf der flachen Hand. Es war ein kleines Zimmer, durch einen roten Wandschirm, einen »chinesischen Schirm«, wie ihn Fjodor Pawlowitsch nannte, quergeteilt. ›Da ist der chinesische Schirm!‹ schoß es Mitja durch den Kopf. Und da hinter dem Schirm ist Gruschenka!‹ Er betrachtete Fjodor Pawlowitsch. Der trug seinen neuen, gestreiften, seidenen Schlafrock – und die seidene Schnur mit Quasten –, den Mitja noch nie an ihm gesehen hatte. Aus dem Brustaufschlag sah saubere, elegante Wäsche hervor, ein feines Hemd aus holländischem Leinen mit goldenen Knöpfen. Um den Kopf hatte Fjodor Pawlowitsch den roten Verband, den schon Aljoscha an ihm gesehen hatte. ›Er hat sich fein gemacht‹, dachte Mitja. Fjodor Pawlowitsch stand nahe am Fenster, offensichtlich in Gedanken versunken; plötzlich hob er den Kopf und horchte einen Augenblick. Da er jedoch nichts hörte, trat er an den Tisch, goß sich aus einer Karaffe ein halbes Gläschen Kognak ein und trank es aus. Dann seufzte er tief, stand wieder ein Weilchen still, trat zerstreut an den Spiegel am Fensterpfeiler, schob mit der rechten Hand den roten Verband ein wenig nach oben und betrachtete seine blauen Flecke und die Schorfe, die noch nicht verschwunden waren. ›Er ist allein!‹ dachte Mitja. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er allein ... Fjodor Pawlowitsch trat vom Spiegel zurück, wandte sich plötzlich dem Fenster zu und blickte hinaus. Mitja sprang sofort zurück in den Schatten.
›Sie ist vielleicht hinter dem Schirm, möglicherweise schläft sie schon?‹ Dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz. Fjodor Pawlowitsch trat vom Fenster zurück. ›Er hält nach ihr Ausschau, also ist sie nicht bei ihm – welchen Grund hätte er sonst, in die Dunkelheit zu starren? Offenbar verzehrt ihn die Ungeduld ... ›Mitja sprang sogleich wieder ans Fenster und schaute von neuem hinein. Der Alte saß jetzt an einem Tischchen, sichtlich in gedrückter Stimmung. Endlich stützte er den rechten Ellenbogen auf den Tisch und legte die Handfläche an die Backe. Mitja beobachtete ihn mit größter Spannung.
›Er ist allein, er ist allein!‹ sagte er sich wieder. ›Wenn sie da wäre, würde er ein anderes Gesicht machen!‹ Merkwürdig: in seinem Herzen regte sich auf einmal ein sinnloser, absonderlicher Ärger darüber, daß sie nicht da war. ›Nein, nicht darüber, daß sie nicht da ist‹, gab sich Mitja, der sich sofort über sein Gefühl klarzuwerden suchte, selbst Antwort. ›Eher darüber, daß ich beim besten Willen nicht zuverlässig herausbekommen kann, ob sie da ist oder nicht.‹ Mitja erinnerte sich später, daß sein Geist in jenem Augenblick völlig klar gewesen war, daß er sich alles bis in die geringste Einzelheit deutlich vorgestellt und jeden Umstand bemerkt hatte. Aber der Mißmut darüber, daß er nichts Bestimmtes wußte und infolgedessen auch keinen Entschluß fassen konnte, wuchs in seinem Herzen mit maßloser Schnelligkeit. Ist sie nun eigentlich hier oder nicht?‹ fragte er sich voller Wut. Und plötzlich faßte er einen Entschluß, streckte die Hand aus und klopfte leise an den Fensterrahmen. Er klopfte das Signal, das der Alte mit Smerdjakow verabredet hatte: die beiden ersten Male langsam und dann dreimal schneller – das Signal, welches bedeutete, Gruschenka ist gekommen! Der Alte fuhr zusammen, hob den Kopf, sprang auf und stürzte ans Fenster. Mitja sprang in den Schatten zurück. Fjodor Pawlowitsch öffnete das Fenster und steckte den Kopf hinaus.
»Gruschenka, du? Bist du es?« sagte er flüsternd, mit zitternder Stimme. »Wo bist du, meine Teure? Mein Engelchen, wo bist du?«
Er war schrecklich aufgeregt und atmete nur mühsam.
›Er ist allein!‹ sagte sich Mitja mit Bestimmtheit.
»Wo bist du denn?« rief der Alte wieder, streckte den Kopf noch weiter heraus, mitsamt den Schultern, und sah sich nach allen Seiten um. »Komm doch her! Ich habe ein
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