Die Brueder Karamasow
einen Verrat an Mitja, zugleich aber auch an sich selbst! Und kaum hatte sie sich ausgesprochen, löste sich die krampfhafte Spannung, und die Scham überwältigte sie. Es folgte wieder ein hysterischer Anfall; sie fiel schluchzend und kreischend hin. Man trug sie hinaus. In dem Moment, als sie hinausgetragen wurde, stürzte Gruschenka von ihrem Platz so schnell zu Mitja, daß man sie nicht mehr zurückhalten konnte.
»Mitja!« schrie sie. »Sie hat dich zugrunde gerichtet, deine Schlange! Jetzt hat sie Ihnen ihre wahre Natur gezeigt!« rief sie zornbebend dem Gerichtshof zu.
Auf einen Wink des Präsidenten wurde sie ergriffen; man versuchte, sie aus dem Saal zu bringen. Aber sie sträubte sich, schlug um sich und wollte sich losreißen, um zu Mitja zurückzukehren.
Mitja schrie auf und wollte ebenfalls zu ihr stürzen. Er wurde überwältigt ...
Ja, ich glaube, unsere schaulustigen Damen konnten befriedigt sein: Es war ein reichhaltiges Schauspiel. Dann erschien, wenn ich mich recht erinnere, der Arzt aus Moskau. Der Präsident hatte wohl schon vorher den Gerichtsinspektor beauftragt, dafür zu sorgen, daß Iwan Fjodorowitsch ärztliche Hilfe zuteil wurde. Der Arzt berichtete dem Gerichtshof, daß der Kranke einen höchst gefährlichen Anfall von Nervenfieber erlitten habe und unverzüglich fortgeschafft werden müsse. Auf die Fragen des Staatsanwalts und des Verteidigers bestätigte er, daß der Patient vor zwei Tagen selbst zu ihm gekommen war und er ihm schon damals den baldigen Ausbruch eines solchen Fiebers vorhergesagt habe; allerdings habe sich der Patient nicht in ärztliche Behandlung geben wollen. »Er war keinesfalls in gesunder Geistesverfassung. Er gestand mir, daß er in wachem Zustand Visionen habe, auf der Straße allerlei toten Personen begegne und daß ihn allabendlich der Satan besuche!« schloß der berühmte Arzt und entfernte sich. Der Brief, den Katerina Iwanowna vorgelegt hatte, wurde den Beweisstücken hinzugefügt. Nach einer Beratung beschloß der Gerichtshof, in der Verhandlung fortzufahren, und die beiden unerwarteten Aussagen, das heißt die Angaben Katerina Iwanownas und Iwan Fjodorowitschs, zu Protokoll zu nehmen.
Ich werde die weitere Gerichtsverhandlung nun nicht mehr schildern. Waren doch die Aussagen der übrigen Zeugen nur eine Wiederholung und Bestätigung der früheren, obgleich jede von ihnen ihre charakteristischen Besonderheiten hatte. In der Rede des Staatsanwalts, zu der ich jetzt übergehe, wird ohnehin nochmals alles unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammengefaßt. Alle waren in Erregung, alle waren durch die letzten Ereignisse wie elektrisiert und warteten mit brennender Ungeduld auf eine baldige Lösung, das heißt auf die Reden der Parteien und das Urteil. Fetjukowitsch war über Katerina Iwanownas Aussagen offenbar sehr betroffen, während der Staatsanwalt triumphierte. Als die gerichtliche Untersuchung beendet war, wurde die Sitzung unterbrochen; die Pause dauerte fast eine Stunde. Endlich verkündete der Präsident den Beginn der PIädoyers. Ich glaube, es war genau acht Uhr abends, als unser Staatsanwalt Ippolit Kirillowitsch seine Anklagerede begann.
6.
Die Rede des Staatsanwalts: Personencharakteristik
Ippolit Kirillowitsch begann seine Anklagerede in mißlichem physischem Zustand: Seine Glieder wurden von einem nervösen Zittern geschüttelt, ein kalter, krankhafter Schweiß bedeckte seine Stirn und seine Schläfen, und er fühlte, wie ihm Frostschauer und Hitze abwechselnd über den Körper liefen. Das hat er selber später erzählt. Er hielt diese Rede für sein chef d'Œuvre, für das chef d'Œuvre seines ganzen Lebens, und er hätte sie auch für sein Schwanenlied halten können. Denn wirklich starb er neun Monate danach an schwerer Schwindsucht, so daß er tatsächlich das Recht gehabt hätte, sich mit einem Schwan zu vergleichen, der sein letztes Lied singt – wenn er sein Ende vorausgeahnt hätte. In diese Rede legte er sein ganzes Herz und alles, was er an Verstand besaß, und er bewies ganz unerwartet, daß in ihm auch soziales Empfinden und Interesse für die »verdammten« modernen Fragen steckte, soweit unser armer Ippolit Kirillowitsch sie zu fassen vermochte. Vor allem wirkte seine Rede durch ihre Aufrichtigkeit. Er glaubte aufrichtig an die Schuld des Angeklagten und klagte ihn nicht im Auftrag, nicht allein in Erfüllung seiner Amtspflicht an. Und wenn er zur »Sühne des Verbrechens« aufrief, so glühte er wirklich von
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