Die Brueder Karamasow
dem heißen Verlangen, »die Gesellschaft zu retten«. Sogar unser Damenpublikum, das dem guten Ippolit Kirillowitsch eigentlich feindselig gesinnt war, gab zu, von der Rede ganz außerordentlich beeindruckt gewesen zu sein. Er begann mit unsicherer, häufig stockender Stimme, dann gewann seine Stimme jedoch sehr bald Kraft und tönte durch den ganzen Saal, und so blieb es bis zum Ende der Rede. Aber als er sie dann beendet hatte, wäre er fast in Ohnmacht gefallen.
»Meine Herren Geschworenen«, begann der Ankläger, »von dem hier anliegenden Prozeß ist ein Donnergrollen durch ganz Rußland ausgegangen. Aber man möchte fragen: Was haben wir für Anlaß zu staunen, was haben wir für Anlaß, so besonders entsetzt zu sein? Gerade wir, wir besonders? Sind wir doch schon so gewöhnt an alles! Gerade das ist das Entsetzliche, daß solche schrecklichen Taten beinahe aufgehört haben, für uns entsetzlich zu sein! Das ist es, worüber wir entsetzt sein müssen: Über unsere Gewöhnung, und nicht über eine einzelne Missetat des einen oder anderen Individuums. Wo aber liegen die Ursachen unserer Gleichgültigkeit, unseres lauen Verhaltens gegenüber solchen Taten, gegenüber solchen Zeichen der Zeit, die uns eine nicht beneidenswerte Zukunft prophezeien? In unserem Zynismus, in der frühzeitigen Erschöpfung des Verstandes und der Phantasie unserer noch jungen, aber vorzeitig hinfällig gewordenen Gesellschaft? In der Erschütterung der Fundamente unserer sittlichen Grundsätze oder gar darin, daß wir solche sittlichen Grundsätze vielleicht überhaupt nicht haben? Ich will diese Fragen nicht beantworten; aber trotzdem sind sie qualvoll, und jeder Bürger muß sie sich mit Schmerz stellen, ja, er ist dazu sogar verpflichtet! Unsere in den Anfängen steckende, noch schüchterne Presse hat dennoch der Gesellschaft schon anerkennenswerte Dienste geleistet; denn ohne sie hätten wir niemals einigermaßen vollständige Kenntnis von jenen entsetzlichen Taten eines zügellosen Willens und einer moralischen Verkommenheit erlangt, die sie ununterbrochen in ihren Spalten allen mitteilt, nicht nur denjenigen, die die Säle des neuen öffentlichen Gerichtswesens besuchen, das uns von der jetzigen kaiserlichen Regierung geschenkt worden ist. Und was lesen wir fast täglich? Oh, fortwährend lesen wir von solchen Dingen, vor denen sogar der uns beschäftigende Fall verblaßt und beinahe als etwas Gewöhnliches erscheint. Aber das allerwichtigste ist, daß eine Menge unserer russischen Kriminalfälle eben von einem allgemeinen Zustand zeugt, von einem gemeinsamen Übel, das bei uns heimisch geworden und wegen seiner weiten Verbreitung nur schwer zu bekämpfen ist. Da ist ein junger, glänzender Offizier, der den höchsten Gesellschaftskreisen angehört und sein Leben und seine Laufbahn eben erst beginnt: Auf gemeine Weise ermordet er heimlich ohne alle Gewissensbisse einen kleinen Beamten, der in gewisser Hinsicht sein Wohltäter gewesen ist, sowie dessen Dienstmagd, um seinen Schuldschein und zugleich auch das übrige bißchen Geld des Beamten zu stehlen! Das werde ich für meine Vergnügungen als Lebemann und für meine künftige Karriere gut gebrauchen können, sagt er sich. Nachdem er die beiden ermordet und den Leichen Kissen unter die Köpfe gelegt hat, geht er davon ... Da bringt ein junger Held, der mit Orden für bewiesene Tapferkeit dekoriert worden ist, in Räubermanier auf der Landstraße die Mutter seines Vorgesetzten und Wohltäters um und versichert zuvor, als er seine Kameraden zur Teilnahme an dem Verbrechen auffordert, sie liebe ihn wie ihren Sohn und befolge daher alle seine Ratschläge und werde keine Vorsichtsmaßregeln treffen. Mag man ihn einen Unmenschen nennen, aber ich wage jetzt, in unserer Zeit, nicht mehr zu sagen, daß er der einzige Unmensch ist. Ein anderer begeht zwar keinen Mord, denkt und fühlt aber genauso wie jener und ist innerlich genauso ehrlos wie er. Im stillen, wenn er mit seinem Gewissen allein ist, fragt er sich vielleicht: Was ist denn eigentlich Ehre? Ist die Scheu vor Blutvergießen nicht eine veraltete Anschauung? Vielleicht wird man mir widersprechen und sagen, ich sei ein kränklicher, hysterischer Mensch, ich brächte ungeheuerliche Verleumdungen vor, ich phantasierte und übertriebe. Wenn dem so wäre, o Gott, ich wäre der erste, der sich darüber freute! Oh, glauben Sie mir nicht, halten Sie mich für krank, aber vergessen Sie trotzdem nicht meine Worte! Wenn auch nur ein
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