Die Brueder Karamasow
Zehntel, nur ein Zwanzigstel von meinen Worten Wahrheit ist, so ist ja auch das schon entsetzlich! Sehen Sie nur, meine Herren, wie sich bei uns die jungen Leute erschießen! Oh, ohne im geringsten mit Hamlet zu fragen: ›Was wird dort sein?‹ Ohne eine Spur einer solchen Frage, als wäre dieses ganze Kapitel über unsere Seele und über alles, was uns jenseits des Grabes erwartet, längst in ihrem Kopf gestrichen, begraben und mit Sand zugeschüttet ... Und werfen Sie schließlich einen Blick auf unsere Unsittlichkeit, auf unsere Wüstlinge! Fjodor Pawlowitsch, das unglückliche Opfer des vorliegenden Prozesses, ist im Vergleich mit manchen von ihnen beinahe ein unschuldiges Kind; aber wir haben ihn ja alle gekannt, er lebte unter uns ... Ja, mit der Psychologie des russischen Verbrechens werden sich vielleicht einmal die hervorragendsten Geister hier und in Westeuropa beschäftigen, denn der Gegenstand verdient das. Doch dieses Studium wird erst später erfolgen können, wenn Muße dazu vorhanden und uns die ganze tragische Absurdität des gegenwärtigen Augenblicks ferner gerückt ist, so daß man sie verständnisvoller und leidenschaftsloser wird betrachten können, als zum Beispiel Leute wie ich das vermögen. Jetzt aber entsetzen wir uns oder tun so, als ob wir uns entsetzen, während wir in Wirklichkeit als Liebhaber starker, exzentrischer Empfindungen, die uns aus unserem zynisch-trägen Müßiggang aufrütteln, das sich uns darbietende Schauspiel mit Genuß auskosten. Oder aber wir wehren wie kleine Kinder die furchtbaren Gespenster mit den Händen von uns ab und stecken den Kopf unter das Kissen, bis die schreckliche Erscheinung vorübergegangen ist, um sie dann sogleich in Heiterkeit und Spielen zu vergessen. Doch irgendwann müssen auch wir unser Leben mit nüchterner Überlegung beginnen, müssen auch wir einen Blick auf uns selbst als auf Mitglieder der Gesellschaft werfen, müssen auch wir wenigstens etwas von unserem gesellschaftlichen Leben begreifen oder wenigstens zu begreifen beginnen. Unser großer Schriftsteller Gogol personifiziert im Finale seines größten Werkes ganz Rußland in dem Bild einer mutigen russischen Troika, die einem unbekannten Ziel zujagt, und ruft aus: ›O du Troika, du beflügelte Troika, wer hat dich erfunden?‹ Und in stolzem Entzücken fügt er hinzu, daß vor dem dahinsausenden Dreigespann alle Völker respektvoll zur Seite treten. Nun gut, meine Herren, mögen sie zur Seite treten, respektvoll oder nicht; aber nach meiner bescheidenen Ansicht hat der geniale Autor diesen Schluß entweder in einem Anfall von kindlich harmlosem Optimismus geschrieben oder einfach aus Furcht vor der damaligen Zensur. Denn wenn man an seinen Wagen nur seine eigenen Helden spannte, Leute wie Sobakewitsch, Nosdrjow und Tschitschikow, so könnte man als Kutscher daraufsetzen, wen man wollte, man würde mit solchen Pferden doch nichts Vernünftiges leisten! Und das waren noch Pferde der früheren Art, die sich von den jetzigen sehr unterschieden – bei uns steht es noch weit schlimmer ...«
Hier wurde Ippolit Kirillowitschs Rede von Beifallklatschen unterbrochen. Das fortschrittliche Bild von dem russischen Dreigespann hatte gefallen. Allerdings erscholl nur ein zwei- oder dreimaliges Zusammenschlagen der Hände, so daß es der Präsident nicht einmal für nötig hielt, sich mit der Drohung, den Saal räumen zu lassen, an das Publikum zu wenden, und nur streng zu den Klatschenden hinblickte. Ippolit Kirillowitsch fühlte sich dadurch jedoch ermutigt; ihm war bisher noch niemals applaudiert worden! Da hatte man ihn so viele Jahre nicht anhören wollen, und plötzlich hatte er die Möglichkeit, zu ganz Rußland zu sprechen!
»In der Tat«, fuhr er fort, »wie ist diese Familie Karamasow beschaffen, die auf einmal so eine traurige Berühmtheit in ganz Rußland erlangt hat? Vielleicht übertreibe ich stark, aber mir scheint, in dem Bild dieser kleinen Familie sind gewisse allgemeine Grundelemente unserer modernen intelligenten Gesellschaft feststellbar – oh, nicht alle Elemente, und auch nur in mikroskopischer Gestalt wie die Sonne in einem Wassertröpfchen; trotzdem spiegelt sich da etwas wider, und es kommt da etwas zum Ausdruck. Betrachten Sie diesen unglücklichen, zügellosen, liederlichen alten Mann, diesen ›Familienvater,‹ der sein Dasein in so trauriger Weise beendet hat. Von Geburt Adliger, beginnt er seine Laufbahn als ein armseliger Schmarotzer. Durch eine zufällige,
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