Die Brueder Karamasow
Lösung noch fern oder doch wenigstens nicht nahe war, daß man frühestens am Morgen des folgenden Tages kommen und ihn festnehmen würde. Folglich hatte er noch mehrere Stunden vor sich: das ist viel, sehr viel! Man kann sich vieles ausdenken, wenn man mehrere Stunden zur Verfügung hat. Ich stelle mir vor, daß er ähnlich empfand wie ein Verbrecher, der zum Galgen gefahren wird: Es muß noch eine lange, lange Straße durchfahren werden; und noch dazu im Schritt, an einer tausendköpfigen Volksmenge vorbei, dann wird der Zug in eine andere Straße einbiegen, und erst am Ende dieser anderen Straße liegt der furchtbare Platz! Ich glaube, zu Beginn der Fahrt muß der Verurteilte das Gefühl haben, noch liege ein endloses Leben vor ihm. Aber siehe da, die Häuser weichen zurück, der Wagen bewegt sich immer weiter vorwärts – oh, das tut nichts, bis zum Einbiegen in die zweite Straße ist es noch so weit, also blickt er immer noch mutig nach rechts und links und in diese tausendköpfige Menge teilnahmslos neugieriger Menschen, die ihre Blicke auf ihn heften, und immer noch will ihm scheinen, er sei kein anderer Mensch als sie. Aber da ist schon die Ecke, die Stelle, wo in die nächste Straße eingebogen wird – oh, das tut auch nichts, es ist ja noch eine ganze Straße! Und wie viele Häuser auch hinter ihm zurückweichen, er wird immer denken: Es sind noch viele Häuser übrig! Und so bis zum Ende, bis zum Platz selbst. So, stelle ich mir vor, war es damals auch mit Karamasow. ›Sie haben noch nicht genug Zeit gehabt, die Verfolgung einzuleiten!‹ denkt er. Ich kann mir noch irgend etwas einfallen lassen. Ich habe noch Zeit, einen Verteidigungsplan zu entwerfen, mir eine Abwehr zurechtzulegen. Und jetzt ... Ach, sie ist so reizend!‹ Trüb sieht es in seiner Seele aus, aber er bringt es doch fertig, von seinem Geld die Hälfte abzuteilen und irgendwo zu verstecken – sonst kann ich mir nicht erklären, wo die eine Hälfte der dreitausend Rubel, die er kurz vorher bei seinem Vater unter dem Kopfkissen hervorgeholt hatte, geblieben sein könnte. Er war nicht zum erstenmal in Mokroje; er hatte dort schon früher einmal zwei Tage lang geschlemmt. Das große alte Holzhaus war ihm mit all seinen Vorratsräumen und Galerien bekannt. Ich nehme an, daß er einen Teil des Geldes kurz vor seiner Festnahme dort versteckt hat, jawohl, in diesem Haus, in irgendeiner Ritze, unter einer Diele, irgendwo in einem Winkel, unter dem Dach. Wozu? Diese Frage ist leicht zu beantworten. Die Katastrophe kann im nächsten Augenblick hereinbrechen; zwar haben wir noch nicht überlegt, wie wir ihr entgegentreten können, und wir haben auch noch keine Zeit dazu gehabt, und es hämmert uns im Kopf, und es zieht uns zu ihr, doch das Geld – Geld ist in jeder Lebenslage unentbehrlich! Ein Mensch, der Geld hat, ist überall ein Mensch. Vielleicht scheint Ihnen eine solche Fähigkeit zum Überlegen in so einem Moment unnatürlich? Aber er versichert uns ja selbst, er habe schon einen Monat vorher in einem gleichfalls sehr aufregenden, verhängnisvollen Augenblick die eine Hälfte von dreitausend Rubeln abgeteilt und in ein Säckchen eingenäht. Und wenn das auch unwahr ist, wie wir sogleich zeigen werden, so war ihm doch dieser Gedanke offenbar nicht fremd: Er hatte ihn schon erwogen. Ja noch mehr. Als er später dem Untersuchungsrichter versicherte, er habe fünfzehnhundert Rubel in ein Säckchen getan, welches nie existiert hat, da hat er sich dieses Säckchen vielleicht gerade deshalb ausgedacht, weil er zwei Stunden vorher in einer jähen Eingebung die Hälfte des Geldes abgeteilt und in Mokroje für jeden Fall bis zum Morgen versteckt hatte, um sie nicht an seinem Körper aufzubewahren. Zwei Unendlichkeiten gibt es, die eine hoch oben, die andere tief unten: Sie erinnern sich, meine Herren Geschworenen, daß Karamasow beide Unendlichkeiten zu schauen vermag, und beide zugleich! Wir haben in diesem Haus gesucht, aber nichts gefunden. Vielleicht ist das Geld auch jetzt noch dort; vielleicht ist es aber auch am nächsten Tag verschwunden und jetzt im Besitz des Angeklagten. Jedenfalls wurde er neben ihr verhaftet, vor ihr knieend. Sie lag auf dem Bett; er streckte die Arme nach ihr aus und hatte alles völlig vergessen, daß er niemanden kommen hörte, nicht einmal jene, die ihn verhaften kamen. Er hatte noch keine Zeit gehabt, eine Antwort in seinem Kopf vorzubereiten. Er und sein Verstand waren überrumpelt worden ... Und da sitzt er nun
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