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Die Brüder Karamasow

Die Brüder Karamasow

Titel: Die Brüder Karamasow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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weiß ich nur, daß es Leiden gibt, daß keine Schuldigen vorhanden sind, daß überall direkt und einfach das eine aus dem anderen hervorgeht, daß alles fließt und sich ins Gleichgewicht setzt – aber das ist ja nur euklidischer Unsinn! Ich weiß das, und ich kann mich nicht überwinden, auf Grund dieses Unsinns zu leben! Was habe ich davon, daß es keine Schuldigen gibt und daß überall eines direkt und einfach aus dem anderen hervorgeht und daß ich das weiß – ich brauche Vergeltung, sonst vernichte ich mich ja selbst. Und zwar Vergeltung nicht irgendwo und irgendwann in der Unendlichkeit, sondern schon hier auf Erden, und so, daß ich sie selbst sehe. Ich habe geglaubt, also will ich auch selbst sehen! Sollte ich jedoch zu jener Stunde schon tot sein, so mag man mich auferwecken. Denn wenn alles ohne mich geschieht, so wäre das ein großes Unrecht mir gegenüber. Ich habe nicht deshalb gelitten, um mit meiner Persönlichkeit, mit meinen Übeltaten und mit meinen Leiden jemandem die künftige Harmonie gewissermaßen zu düngen. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie die Hirschkuh sich neben den Löwen legt, wie der Ermordete aufersteht und seinen Mörder umarmt. Ich will dabeisein, wenn alle plötzlich erkennen, warum alles so gewesen ist. Auf diesem Wunsch beruhen alle Religionen auf der Erde, und ich bin gläubig. Aber da sind nun noch die kleinen Kinder, was soll ich mit denen anfangen? Das ist eine Frage, auf die ich keine Antwort finde. Ich wiederhole abermals, es gibt viele solcher Fragen; ich habe die Kinder als einziges Beispiel benutzt, weil das, was ich sagen will, hierbei unverkennbar deutlich ist. Paß auf! Wenn alle leiden müssen, um durch ihr Leiden die ewige Harmonie zu erkaufen – inwiefern sind daran die kleinen Kinder beteiligt? Das sag mir doch bitte! Es gibt überhaupt keine Erklärung, warum auch sie leiden und durch ihr Leiden die Harmonie erkaufen müssen. Warum sind auch sie unter die Düngemittel geraten und haben mit ihren Persönlichkeiten für irgend jemand die zukünftige Harmonie gedüngt? Die Solidarität in der Sünde unter den Menschen begreife ich, ich begreife auch die Solidarität in der Vergeltung. Aber die kleinen Kinder haben doch an der Solidarität in der Sünde nicht teil, und wenn es wirklich wahr ist, daß sie mit ihren Vätern in deren Übeltaten solidarisch sind, so ist diese Wahrheit allerdings nicht von dieser Welt und mir unverständlich. Der eine oder andere Spaßvogel wird vielleicht sagen, das Kind werde heranwachsen und dann schon sündigen – aber zumindest jener Junge ist gar nicht erst herangewachsen, sondern schon im Alter von acht Jahren mit Hunden zu Tode gehetzt worden. Nein, Aljoscha, ich lästere Gott nicht! Ich begreife ja, wie gewaltig die Erschütterung des Weltalls sein muß, wenn alles, was im Himmel und auf Erden und unter der Erde ist, zusammenfließen wird in einen einzigen Lobgesang, und alles, was da lebt und gelebt hat, rufen wird: ›Gerecht bist du, Herr, denn deine Wege sind offenbar geworden!‹ Wenn selbst die Mutter das Ungeheuer umarmen wird, das ihren Sohn von den Hunden zerreißen ließ, und alle drei unter Tränen ausrufen werden: ›Gerecht bist du, o Herr!‹ Dann wird die Erkenntnis natürlich ihren Gipfelpunkt erreichen, und alles wird seine Erklärung finden. Aber da sitzt eben der Haken, gerade das kann ich nicht akzeptieren. Und solange ich auf der Erde bin, werde ich mich beeilen, meine Maßnahmen dagegen zu ergreifen! Siehst du, Aljoscha, vielleicht wird es tatsächlich geschehen, daß ich, sollte ich bis zu jenem Augenblick leben oder auferweckt werden, um ihn zu erleben – daß ich dann angesichts der Mutter, die den Peiniger ihres Kindes umarmt, mit allen zusammen ausrufe: ›Gerecht bist, du, o Herr!‹ Aber ich will das dann nicht ausrufen. Solange es noch Zeit ist, beeile ich mich, Einspruch zu erheben, und darum will ich von der höchsten Harmonie überhaupt nichts wissen. Sie ist nicht einmal die Tränen jenes einen gequälten Kindes wert, das sich mit dem Fäustchen an die Brust schlug und in seinem stinkenden Gefängnis mit ungesühnten Tränen zum ›lieben Gott‹ betete! Sie ist diese Tränen nicht wert, weil sie ungesühnt geblieben sind. Sie müssen gesühnt werden, sonst ist eine Harmonie unmöglich. Aber wodurch, wodurch können sie gesühnt werden? Ist das überhaupt möglich? Etwa dadurch, daß sie gerächt werden? Was hilft mir eine dafür geübte Rache? Was hilft mir die Hölle für die

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