Die Brüder Karamasow
offenbar ohne die Absicht, etwas zu erwidern. Der Greis möchte, daß Er etwas sagt, und sei es etwas Bitteres, Furchtbares. Doch Er nähert sich plötzlich wortlos dem Greis und küßt ihn sacht auf die blutlosen welken Lippen. Das ist seine ganze Antwort. Der Greis fährt zusammen. Um seine Mundwinkel zuckt es, er geht zur Tür, öffnet sie und sagt zu Ihm: ›Geh und komm nicht wieder! Komm überhaupt niemals wieder! Niemals, niemals!‹ Und er läßt Ihn hinaus auf die dunklen Straßen und Plätze der Stadt. Der Gefangene geht!«
»Und der Greis?«
»Der Kuß brennt ihm im Herzen, doch er beharrt auf seiner Idee.«
»Und du mit ihm, du auch?« rief Aljoscha traurig.
Iwan lachte.
»Das ist doch alles Unsinn, Aljoscha! Das verrückte Poem eines verrückten Studenten, der niemals auch nur zwei Verse geschrieben hat. Warum nimmst du die Sache so ernst? Du denkst doch wohl nicht, daß ich jetzt geradewegs dorthin fahre, zu den Jesuiten, um in die Schar derer einzutreten, die Seine Tat verbessern? Ach Gott, was geht das mich an? Ich habe dir ja gesagt, ich möchte nur bis dreißig leben – und dann den Becher auf den Boden schleudern!«
»Aber die klebrigen Blättchen und die teuren Gräber und der blaue Himmel und die geliebte Frau! Wie willst du leben, mit welcher Kraft die alle lieben?« rief Aljoscha bekümmert. »Ist das denn möglich mit so einer Hölle in der Brust und im Kopf? Nein, du wirst hinfahren, um dich ihnen anzuschließen. Und wenn du das nicht tust, wirst du es nicht aushalten können und dich selbst töten!«
»Es gibt eine Kraft, die alles aushält!« erwiderte Iwan mit einem Lächeln, das bereits kalt war.
»Was ist das für eine Kraft?«
»Die Karamasowsche. Die Kraft der Karamasowschen Gemeinheit.«
»Das bedeutet, in Ausschweifungen versinken, die Seele im Laster ersticken – ja?«
»Meinetwegen auch das ... Bis ich dreißig bin, werde ich dem vielleicht noch entgehen, aber dann ...«
»Wie willst du dem entgehen? Und wodurch? Ein Ding der Unmöglichkeit bei deinen Anschauungen!«
»Wiederum auf Karamasowsche Art.«
»Soll das heißen, nach dem Grundsatz: ›Alles ist erlaubet‹? Alles ist erlaubt, nicht wahr?«
Iwan machte ein finsteres Gesicht und wurde auf einmal seltsam blaß. »Ah, da hast du einen Satz von gestern aufgefangen, über den sich Miussow so ereifert hat. Und den Dmitri dann, so naiv auffahrend, wiederholt hat«, erwiderte Iwan mit einem krampfhaften Lächeln. »Na meinetwegen. ›Alles ist erlaubt‹ – wenn der Satz nun einmal ausgesprochen ist. Ich nehme ihn nicht zurück. Und auch Mitenkas Redaktion dieses Satzes war gar nicht übel.«
Aljoscha blickte ihn schweigend an.
»Ich habe geglaubt, Bruder, wenn ich nun wegfahre, habe ich auf der ganzen Welt wenigstens dich«, sagte Iwan auf einmal mit einem unerwarteten Gefühlsausbruch. »Doch jetzt sehe ich, daß auch in deinem Herzen kein Platz für mich ist, mein lieber Einsiedler. Von dem Satz ›Alles ist erlaubt‹ sage ich mich nicht los. Na, wie ist es, sagst du dich deswegen von mir los, ja?«
Aljoscha stand auf, trat wortlos zu ihm und küßte ihn auf den Mund.
»Das ist literarischer Diebstahl!« rief Iwan plötzlich fast enthusiastisch. »Das hast du aus meiner Dichtung gestohlen! Dennoch ich danke dir. Steh auf, Aljoscha, wir wollen gehen. Es ist Zeit für uns beide.«
Sie gingen hinaus, blieben aber vor der Tür des Restaurants stehen.
»Hör mal zu, Aljoscha«, sagte Iwan mit fester Stimme. »Wenn mich die klebrigen Blättchen wirklich rühren sollten, werde ich sie nur in Erinnerung an dich lieben. Es genügt mir, daß es dich hier irgendwo gibt – und schon habe ich die Lust am Leben noch nicht verloren! Genügt dir das? Wenn du willst, kannst du das als eine Liebeserklärung auffassen. So, und jetzt geh. Und zwar du nach rechts, ich werde nach links gehen – es ist genug, hörst du? Es ist genug! Das soll heißen: Sollte ich morgen nicht wegfahren – ich glaube aber, ich werde bestimmt fahren – und sollten wir uns noch einmal begegnen, dann sprich über alle diese Themen kein Wort mehr mit ihm. Das ist meine dringende Bitte ... Und was unseren Bruder Dmitri anlangt, so bitte ich dich ganz besonders, sprich mit mir nie mehr über ihn«, fügte er plötzlich gereizt hinzu. »Dieser Punkt ist ja erschöpft, vollständig durchgesprochen, nicht wahr? Ich meinerseits werde dir dafür ebenfalls etwas versprechen. Wenn ich mit dreißig Lust bekomme, ›den Becher auf den Boden zu
Weitere Kostenlose Bücher