Die Brüder Karamasow
der dabei doch sein ganzes Leben lang die Menschheit geliebt und nun plötzlich eingesehen hat, daß es kein großes moralisches Glück bedeutet, die Vollkommenheit des Willens zu erreichen, wenn man gleichzeitig davon überzeugt ist, daß Millionen anderer Geschöpfe Gottes dies nicht können und nur zum Hohn geschaffen sind, daß sie nie imstande sein werden, mit ihrer Freiheit zurechtzukommen, daß sich die armseligen Rebellen niemals zu Riesen entwickeln und den Turm fertigbauen werden und daß der große Idealist nicht wegen solcher Gänse von der Harmonie geträumt hat. Nachdem er das alles eingesehen hatte, kehrte er zurück und schloß sich den klugen Leuten an. Wäre so etwas nicht denkbar?«
»Wem schloß er sich an? Welchen klugen Leuten?« rief Aljoscha beinahe wütend. »Sie besitzen gar keinen solchen Verstand und gar keine solchen Geheimnisse! Höchstens ihre Gottlosigkeit, das ist ihr ganzes Geheimnis! Dein Inquisitor glaubt nicht an Gott, das ist sein ganzes Geheimnis!«
»Soll es so ein, meinetwegen! Endlich hast du es erraten. Es ist wirklich so, darin besteht tatsächlich das ganze Geheimnis! Aber ist das etwa kein Leid – wenn auch nur für einen Menschen wie ihn, der in der Wüste sein ganzes Leben austilgte, um eine Großtat zu verrichten, und sich doch nicht kurieren konnte von seiner Liebe zur Menschheit? Am Abend seiner Tage gelangt er mit aller Klarheit zu der Überzeugung, daß nur die Ratschläge des großen, furchtbaren Geistes den Zustand dieser schwächlichen Rebellen, dieser unfertigen, gleichsam nur probeweise hergestellten, zum Hohn erschaffenen Wesen einigermaßen erträglich gestalten könnten. Und nun, da er davon überzeugt ist, sieht er ein, daß man nach der Weisung des klugen Geistes, des furchtbaren Geistes des Todes und der Zerstörung, verfahren muß, daß man sich zu diesem Zweck der Lüge und der Täuschung bedienen, die Menschen mit Bewußtsein zu Tod und Untergang führen und sie dabei auf dem ganzen Weg betrügen muß, damit sie nicht merken, wohin sie geführt werden, und damit sich diese armseligen Blinden wenigstens unterwegs für glücklich halten. Und wohlgemerkt, der Betrug geschieht im Namen eines Ideals, an das der Greis sein ganzes Leben leidenschaftlich geglaubt hat! Ist das etwa keine Tragik? Und sollte sich auch nur ein einziger solcher Mensch an der Spitze dieser Armee befinden, ›die lediglich um schmutziger Güter willen nach Macht verlangt‹, wäre das nicht schon ausreichend für eine Tragödie? Ja noch mehr, ein einziger solcher Mensch an der Spitze reichte aus, damit für die römische Sache mit all ihren Heeren und Jesuiten endlich eine wirklich führende Idee, die höchste Idee gefunden würde. Ich sage dir unumwunden, ich glaube ganz fest, daß dieser ›einzige‹ Mensch unter den Anführern der Bewegung niemals allein sein kann. Wer weiß, vielleicht hat es auch unter der hohen römischen Geistlichkeit solche ›einzigen‹ gegeben. Wer weiß, vielleicht existiert dieser verfluchte Greis, der die Menschheit so hartnäckig auf seine Art liebt, auch jetzt in Gestalt einer ganzen Schar von vielen ›einzigen‹ Greisen, und zwar nicht zufällig, sondern vielleicht auf Grund eines geheimen Einverständnisses, das schon vor langer Zeit getroffen worden ist – zwecks Wahrung des Geheimnisses vor den unglücklichen schwachen Menschen und in der Absicht, sie glücklich zu machen. Sicher ist das so, muß das so sein. Ich stelle mir vor, daß auch die Freimaurer etwas haben, was diesem Geheimnis ähnlich ist, daß die Katholiken deshalb so einen Haß auf die Freimaurer haben, weil sie in ihnen Konkurrenten sehen und eine Auflösung der Einheit der Idee befürchten, wo es doch eine Herde geben soll und einen Hirten ... Übrigens führe ich mich bei der Verteidigung meiner Gedanken auf wie ein Autor, der deine Kritik nicht vertragen kann. Schluß damit!«
»Du bist vielleicht selbst Freimaurer!« entfuhr es Aljoscha plötzlich. »Du glaubst nicht an Gott«, fügte er bekümmert hinzu. Außerdem schien es ihm, als ob ihn der Bruder spöttisch ansähe. »Wie endet denn deine Dichtung?« fragte er plötzlich, die Augen niedergeschlagen. »Oder ist sie schon zu Ende?«
»Ich wollte sie folgendermaßen abschließen: Nachdem der Inquisitor geendet hat, wartet er einige Zeit auf eine Antwort des Gefangenen. Dessen Schweigen wird ihm peinlich. Er hat bemerkt, wie ihm der Gefangene die ganze Zeit still zugehört und eindringlich in die Augen gesehen hat –
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