Die Brüder Löwenherz
mein Junge«, sagte Matthias.
»Vergiß deinen Großvater nicht!«
»Nein, nie, niemals werde ich dich vergessen«, sagte ich. Und dann war ich allein unter der Erde. Ich kroch durch den langen, finsteren Gang, und die ganze Zeit über sprach ich mit mir selber, um mich zu beruhigen und keine Angst zu bekommen.
»Nein, es macht nichts, daß es stockfinster ist... Nein, du erstickst ganz bestimmt nicht... Ja, ein wenig Erde rieselt dir in den Nacken, aber das bedeutet nicht, daß der ganze Gang einstürzt du Dummkopf! Nein, nein, Dodik kann dich nicht sehen, wenn du rauskriechst, er ist ja schließlich keine Katze, die im Dunkeln sieht. Aber gewiß, Jonathan ist ganz sicher da und wartet auf dich, ja, das tut er, du hörst doch, was ich sage. Er ist da. Er ist da!«
Und er war da. Er saß im Dunkeln auf einem Stein, und ein Stückchen von ihm entfernt standen Grim und Fjalar unter einem Baum.
»Na also, Karl Löwenherz«, sagte er, »da bist du ja endlich!«
12
Wir schliefen dieser Nacht unter einer Tanne, und früh im Morgengrauen wachten wir auf und froren. Jedenfalls fror ich. Zwischen den bäumen lag Nebel, und Grim und Fjalar waren kaum zu sehen. Wie graue Gespensterpferde tauchten sie aus all dem Grau und der Stille ringsum auf. Ganz still war es. Und irgendwie traurig. Ich weiß nicht, warum mir alles so traurig und einsam und beängstigend vorkam, als ich an diesem Morgen erwachte. Ich weiß nur, daß ich mich in Matthias’ warme Küche zurücksehnte und mich vor dem fürchtete, was uns erwartete. Vor allem, was ich noch nicht kannte. Ich bemühte mich, Jonathan nicht merken zu lassen, wie mir zumute war. Denn wer weiß, vielleicht hätte er mich wieder zurückgeschickt, und ich wollte doch bei ihm sein in allen Gefahren, wie groß sie auch sein mochten. Jonathan sah mich an und lächelte.
»Mach nicht so ein ängstliches Gesicht, Krümel«, sagte er.
»Das ist noch gar nichts. Es wird noch viel schlimmer!«
Na, das war ein schöner Trost! Plötzlich aber brach die Sonne durch und der Nebel verschwand. Die Vögel im Wald begannen zu singen, alle Traurigkeit und Verzagtheit verflog, und alle Gefahren erschienen mir nicht mehr so gefährlich. Und warm wurde mir auch. Die Sonne wärmte bereits. Alles sah besser aus, fast gut. Auch Grim und Fjalar ging es wohl gut. Sie brauchten nicht länger im dunklen Stall zu stehen und konnten auf der Wiese saftiges grünes Gras fressen. Das gefiel ihnen sicherlich sehr. Aber nun pfiff Jonathan sie herbei, es war nur ein leiser Pfiff, doch sie hörten ihn und kamen herangetrabt. Jonathan wollte jetzt fort. Weit fort! Gleich!
»Denn dicht hinter uns im Haselgestrüpp ist die Mauer«, sagte er.
»Und ich habe keine Lust, plötzlich Dodik gegenüberzustehen.«
Unser unterirdischer Gang endete zwischen zwei Haselsträuchern neben uns. Doch die Öffnung war nicht zu sehen, Jonathan hatte sie mit Zweigen und Reisig zugedeckt. Er markierte die Stelle mit ein paar Stecken.
»Merk dir, wie es hier aussieht«, sagte er.
»Merk dir den großen Stein da und die Tanne, unter der wir geschlafen haben, und auch die Haselsträucher. Vielleicht kehren wir noch einmal hierher zurück. Wenn nicht...«
Er brach ab und verstummte. Und schweigend saßen wir auf und ritten davon. Kurz darauf kam eine Taube über die Baumwipfel geflogen. Eine von Sophias weißen Tauben.
»Das ist Paloma«, sagte Jonathan, obwohl es nicht zu begreifen war, daß er sie auf so weite Entfernung erkennen konnte. Wir hatten lange auf Nachricht von Sophia gewartet. Endlich kam ihre Taube, jetzt, als wir schon jenseits der Mauer waren. Sie flog schnurgerade zum Matthishof. Bald würde sie sich am Taubenschlag vor dem Stall niederlassen, aber nur Matthias würde dort sein und ihre Botschaft lesen. Das grämte Jonathan.
»Hätte diese Taube nicht gestern kommen können?« sagte er.
»Dann wüßte ich jetzt, was ich wissen will.«
Aber wir mußten fort, weit fort vom Heckenrosental und der Mauer und all den Tengilmännern, die Jonathan jagten. Auf einem Umweg durch den Wald wollten wir zum Fluß hinunter und dann am Ufer entlang zum Karmafall reiten.
»Und da, mein kleiner Karl«, sagte Jonathan, »wirst du einen Wasserfall zu sehen bekommen, wie du ihn dir nie hast träumen lassen.«
»Nie hab träumen lassen!« sagte ich. »Ich habe überhaupt noch keinen Wasserfall zu sehen gekriegt.«
Viel hatte ich wirklich nicht gesehen, bevor ich nach Nangijala gekommen war. Auch noch keinen Wald wie den,
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