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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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diesen Abschnitt geschrieben hatte, trat sein Abscheu trotz seines vorherigen Ehrgeizes, objektiv und sachlich zu sein, in den Vordergrund. Bosie wirkte auf einmal unermesslich eingebildet, snobistisch, arrogant und geradezu bösartig selbstsüchtig. Der Leser konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Bosie dem Autor Oscar Wilde das Grab geschaufelt hatte.
    Anschließend folgten einige Seiten über Einzelheiten des Prozesses, und der Text verlor jegliche Spannung und literarische Finesse. Sverre begann querzulesen, wie er das früher bei gewissen Passagen in seinen Lehrbüchern getan hatte, um rascher zum Wesentlichen vorzudringen.
    Nachdem es dem bösartigen Marquis oder, wie Sverre ihn sah, dem von Trauer und Hass verblendeten Vater erst einmal gelungen war, Wilde in einen Prozess zu verwickeln, war das logische Ende nicht mehr abzuwenden.
    Immerhin hatte der Marquis die englische Regierung in der Hand. Stellte sich heraus, dass Premierminister Rosebery ebenfalls ein »Sodomit« war, würde das zum Sturz der Regierung führen. Der Prozess konnte daher nur einen Ausgang finden. Die Stellung Englands in der Welt und das Wohlergehen des britischen Weltreichs forderten eine Verurteilung. Eine andere Schlussfolgerung war undenkbar.
    Gegen Ende des konfusen Prozessberichts – und das in einem Text, der so vielversprechend begonnen hatte – tauchte dann doch noch ein Abschnitt verzweifelter, aber wunderbarer Prosa auf.
    Der Staatsanwalt versuchte im vermutlich bereits dritten Prozess den Schriftsteller Oscar Wilde mit einem Schriftstück, das von dem nach allem zu urteilen widerwärtigen Bosie, also von Lord Alfred Douglas, verfasst worden war, in eine Falle zu locken. Es war ein Gedicht, dessen Schlusszeile lautete: »Ich bin die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt.«
    Offenbar war allen klar gewesen, worum es ging. Der Staatsanwalt wollte triumphieren, indem er den bereits arg gebeutelten Oscar Wilde dazu brachte, die rhetorische Frage zu beantworten, von welcher schüchternen Liebe da die Rede sein könne.
    Albies Text begann wieder zu leuchten, die künstlerische Präzision vom Anfang, ehe es um irgendwelche juris­tischen Spitzfindigkeiten gegangen war, war wieder da. Wenn sich Sverre getraut hätte, hätte er den ganzen Abschnitt rot angestrichen.
    Es war, als würde Oscar in diesem Augenblick plötzlich aus seiner Lähmung erwachen. Er hob den Kopf, holte tief Luft und sprach wie früher, ohne Manuskript, trotzdem druckreif, ohne zu zögern und sich auch nur einmal zu versprechen. Vermutlich waren es die schönsten Worte, die je jemand im Old Bailey vorgebracht hatte:
    »Die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt, ist in diesem Jahrhundert dieselbe große Zuneigung eines älteren zu einem jüngeren Mann, die es schon zwischen dem David der Bibel und Jonathan gab, die, die Platon seiner Philo­sophie zugrunde legte, und die, die man in den Sonetten Shake­speares und Michelangelos findet. Es ist diese tiefe, geistige Zuneigung, die ebenso rein wie vollkommen ist und die allen großen Kunstwerken zugrunde liegt. Ebenjenen von Shake­s­peare und Michelangelo und meinen eigenen Briefen, die das Hohe Gericht hat vorlesen lassen. In unserem Jahrhundert hat man diese Liebe missverstanden, und zwar in einem Grade, dass sie sich als Liebe beschreiben lässt, die ihren Namen nicht zu nennen wagt. Um dieser Liebe willen befinde ich mich jetzt hier. Sie ist schön, sublim und die edelste Form der Hingabe. Sie hat nichts Unnatürliches. Sie ist in ihrer Natur intellektuell und wird zwischen älteren und jüngeren Männern immer existieren. Der Ältere trägt mit seinem Intellekt bei und der jüngere Mann mit seiner Freude, mit seinen Hoffnungen und mit seiner Lust auf das vor ihm liegende Leben. Die Welt versteht nicht, dass es sich so verhält. Die Welt verhöhnt diese Liebe und schickt Männer ihretwegen manchmal auf die Anklagebank.«
    Sverre las diesen Absatz drei Mal, bis er ihn auswendig konnte. Es waren erschütternde Zeilen, er hatte selten etwas so Ergreifendes gelesen. Es war auf einer Stufe mit dem Schönsten von Schiller und Goethe anzusiedeln, insbesondere wenn man bedachte, dass es sich sowohl um Kunst als auch Wirklichkeit handelte. Noch dazu nicht um irgendeine Wirklichkeit, sondern um verbotene Wirklichkeit.
    Was Albie bislang geschrieben hatte, stimmte Sverre in seiner wechselnden literarischen Qualität in mehr als einer Beziehung traurig. Offenbar war er auf diesen Bosie eifersüchtig.

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