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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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war.
    Sverres zweites Ich grübelte über das nach, was er bislang in Albies Romantext gelesen hatte, besonders den ­sogenannten neuen Journalismus. Zumindest handelte es sich um einen Text, der Anspruch auf Wahrhaftigkeit erhob, genauer gesagt, schonungslose Wahrhaftigkeit.
    Schließlich gewann Sverres Neugier wieder die Oberhand. Er wollte wissen, wie es weiterging. Sobald er seine Smokingjacke in den Schrank gehängt und sich seiner schwarzen Fliege entledigt hatte, zog er seine Hausjacke an, begab sich quer durch das Obergeschoss zu seiner Leseecke im Herrenzimmer und schaltete die Lampe ein.
    Er hatte die Lektüre wegen des Abendessens an einem dramatischen Wendepunkt unterbrechen müssen, an dem der bösartige, rachsüchtige Marquis von Queensberry dabei war, wider alle Vernunft und Moral zu siegen.
    Ob aus reiner Schlauheit oder bloßem Glück oder nur, weil sein jüngster Sohn Bosie so eingebildet und einfältig war, konnte der Autor nicht entscheiden. Die Beschreibung des Verlaufs war jedoch klar und konkret.
    Der Marquis hinterließ im Vestibül des Albemarle Club eine Nachricht an den Schriftsteller Oscar Wilde. Auf das Kuvert schrieb er: »An Oscar Wilde, Somdomit.«
    Sverre musste das Wort in einem Wörterbuch nachschlagen, wo es nicht stand. Dass es sich bei Somdomit aber um eine grobe Verunglimpfung handeln musste, ging aus dem Kontext hervor.
    Weiter unten im Text erfuhr er, dass der Marquis das Wort falsch geschrieben hatte und eigentlich Sodomit meinte.
    Auch dieses Wort war Sverre unbekannt. Er musste erneut das Wörterbuch konsultieren und errötete, als er las, worum es ging. Abgesehen von den einleitenden Erklärungen, die mit Tieren zu tun hatten, waren Sodomiten Leute wie Albie und er.
    Nach Gottes Gesetz gehörten sie unverzüglich hingerichtet. Diese Strafe wurde im zweiten und fünften Buch Mose erwähnt.
    Sverre verlor den Faden. Für ihn war Gott passé. Was ein orientalisches Hirtenvolk vor zweitausend Jahren geglaubt hatte oder nicht, hatte im modernen 20. Jahrhundert ganz einfach keine Bedeutung mehr. Gottesvorstellungen hatten in älteren Zeiten Auswirkungen auf die Moral, die Gesetze, aber auch die Kunst. Man brauchte nur an Mozarts Requiem zu denken.
    Jetzt war das anders. Die Kunst hatte die Fesseln der Religion abgeworfen, in dem Jahrhundert, in dem die Menschen wie Vögel fliegen, wie Walfische tauchen und bald auch über Kontinente hinweg miteinander würden sprechen können.
    All diese Einwände waren traurigerweise irrelevant, das wusste er. Seine eigene Mutter hing diesem Aberglauben immer noch an und – noch schlimmer – sein ältester Bruder, der über eine Bildung verfügte, in deren Nähe sie aus natürlichen Gründen nie gekommen war. Ihre Kunst – sie war eine eigenständige Künstlerin mit einem außerordentlichen Gespür für Farben – wies keinerlei Verbindung zu ihrem primitiven Glauben auf. Trotzdem war sie in den Fesseln der Religion gefangen, trotzdem glaubte sie an einen höheren, befehlenden Willen, der sagte, dass solche Menschen wie ihr jüngster Sohn wegen ihrer Art zu lieben hingerichtet werden sollten. Das war so unmenschlich, dass dagegen weder Tränen noch Gebete halfen.
    Noch schlimmer war es bei Lauritz und seinem Gott! Glaubte er wirklich, dass es der Wunsch seines Gottes war, seinen Bruder Sverre auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen?
    Diese Überlegungen waren alle sinnlos. In diesem Punkt hatte er seit Langem resigniert. Es war die kalte, sachliche Beschreibung des Wörterbuches gewesen, die ihn abgelenkt hatte.
    Albie trank immer einen Whisky, wenn er aufgebracht, ausgelassen oder bedrückt war. Sverre trank immer mit, aber nie allein. Jetzt war der Augenblick für eine Aus­nahme.
    In der Hausbar, in der Jones die Karaffe täglich mit frischem Wasser füllte, standen zehn Sorten zur Auswahl.
    Er nahm die erstbeste Flasche, füllte ein Glas, verdünnte, kehrte zu seinem Lesesessel zurück, trank einen Schluck und beruhigte sich etwas.
    Zurück zur Sachfrage, wie Albie gesagt hätte.
    Bei der heimtückischen oder auch gelungenen Provo­kation des Marquis von Queensberry handelte es sich um eine effektive Falle. Der Marquis wollte sich der Verleumdung anklagen lassen. So sah der Köder aus.
    Der offenbar nicht allzu geniale Oscar Wilde fiel auf diese Finte herein, wohl auch deswegen, weil ihm sein Liebhaber Bosie, sein böser Dämon, die abwegigsten Ratschläge gab. Sonst hätte sich die Katastrophe vielleicht vermeiden lassen.
    Als Albie

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