Die Brueder
des Varietés ließ sich Sverre dazu verleiten, ebenfalls Bier zu trinken, was er um diese Tageszeit nie tat. Wenig später musste er sich entschuldigen, um ein Nickerchen zu halten.
Wieder in seinem Schlafwagenabteil, das Bettzeug war inzwischen weggeräumt worden, überfiel ihn eine unerwartete Schwermut. Die Reiseberichte der beiden Athleten hatten ein überwältigendes Heimweh in ihm ausgelöst, gefolgt von den bislang erfolgreich unterdrückten, sorgenvollen Gedanken seines schlechten Gewissens.
Arvid Sandbergs und Beck-Olsens Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit stimmten ihn unerklärlich melancholisch. Sie verrichteten im Schweiße ihres Angesichts die Arbeit, für die sie sich am besten eigneten. Außerdem waren sie Väter und Ernährer, die sich die Freilichtsaison in Europa nicht entgehen lassen konnten, wofür sie Frau und Kinder zu Hause zurücklassen mussten. Arvid zeigte Sverre ein Foto seiner dreijährigen Tochter in einem etwas zu langen und sicher auch zu teuren Kleidchen. Beck-Olsen verwahrte Fotos zweier blonder Knaben, die nur wenig älter waren als das Mädchen, in seiner Brieftasche. Keiner der beiden starken Männer unternahm auch nur den geringsten Versuch, sein Heimweh zu verbergen. Ihre Augen glänzten beim Betrachten der Fotos. Sie reisten zweiter Klasse und nicht im Schlafwagen, um möglichst viel Geld zu sparen, obwohl sie gut verdienten und Arvid außerdem noch einen Weltrekordbonus von 25 Pfund erhalten hatte.
Hätten Sverre und seine Brüder die Seilerei von Cambell Andersen in Bergen nicht verlassen, wären aus ihnen vermutlich auch solche harten Arbeiter geworden. Stattdessen war er zu einem Mann herangewachsen, der Nächte damit zubringen konnte, die Arbeiterfrage, das Frauenwahlrecht, Freud, den Vitalismus, die Homosexualität, Treue und Untreue oder ob die Kunst als Agitation aufzufassen sei oder unpolitisch zu sein habe und Ähnliches, zu diskutieren. Derartige Fragen beschäftigten Beck-Olsen und Arvid Sandberg wohl weniger. Ob er in Bergen ein wahrhaftigerer Mensch geworden wäre? Eine nicht zu beantwortende Frage, vielleicht auch eher eine leise Besorgnis.
Es war das Jahr 1905. Vor fünf Jahren war er zum letzten Mal auf der Osterøya gewesen, vor vier Jahren hatte er Lauritz in einem kurzen Brief mitgeteilt, dass er dem gemeinsamen Leben mit den Brüdern den Rücken kehren würde.
Er hatte aufrichtig geschrieben, dass er einen Mann liebte, was auf der Hardangervidda wie auch in Bergen, aber insbesondere in den Augen ihrer Mutter Maren Kristine einer Katastrophe gleichkam.
Lauritz schien damals von einem Zorn alttestamentarischer Wucht ergriffen worden zu sein, der bis heute anhielt. Es bereitete Sverre größere Mühe, sich vorzustellen, wie Oscar die Sache damals wohl aufgenommen hatte. Zum einen war er nicht im Geringsten religiös, konnte ihn also nicht aus diesem Grund verurteilt haben. Auch in anderen Dingen war er toleranter als Lauritz. Von den drei Brüdern war er derjenige gewesen, der sich am meisten für die deutschen Sozialisten interessiert hatte, die einzige politische Bewegung in Europa, die Homosexuelle verteidigte.
Homosexuelle war das neue Wort. Das klang entweder wie ein medizinischer Begriff oder eine Beschreibung der Sexualität zwischen Menschen, was in gewisser Weise sicher zutraf, jedoch auf wenig erhellende und urteilsfreie Art. Genauso wenig wie »Urninge«.
Wie auch immer, sicher war es Oscar viel leichter gefallen als Lauritz, diese Sache zu akzeptieren, derentwegen sie vermutlich heute noch in Streit geraten würden. Er fragte sich, welche Erklärung sie Mutter Maren Kristine für das Verschwinden ihres jüngsten Sohnes gegeben hatten. Die Wahrheit ja wohl kaum, wenn sie sie schonen wollten. Aber die eigene Mutter zu belügen war nicht einmal für einen Erwachsenen einfach. Vielleicht hatten sie ihr ja die halbe Wahrheit erzählt. Dass Sverre wegen einer Liebe geflohen war, dass die Liebe aber einer Frau galt?
Diese Notlüge genügte doch wohl kaum als Erklärung für sein jahrelanges Schweigen?
Und jahrelang geschwiegen hatte er.
Vielleicht war er ja feiger als seine Brüder, obwohl er noch nie in diesen Bahnen gedacht hatte. Als Jungen waren sie aus derselben Höhe in den Fjord gesprungen, waren gleich tief getaucht und hatten mit gleicher Entschlossenheit dem Vater beim Reffen der Segel bei Sturm geholfen. Er hatte seine älteren Brüder, was die Größe anbelangte, nicht nur eingeholt, sondern sogar überholt, er war größer, stärker
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