Die Brueder
und mutiger geworden. Es war ihm immer leichter gefallen als seinen Brüdern, spätnachts noch durch die dunklen Gassen Dresdens zu gehen.
Aber das war etwas anderes. Physischer Mut hatte nichts mit Moral zu tun.
Es war feige gewesen, dass er seiner Mutter nicht geschrieben hatte. Sie hatte ein Anrecht darauf, alles zu erfahren. Und vor allem hatte sie ein Anrecht darauf, von der nagenden Ungewissheit befreit zu werden, die ihr das Leben erschwerte.
Diesen Gedanken verbot er sich eigentlich immer. Das schlechte Gewissen hatte er ganz weit in sein Unterbewusstsein verbannt. In Bloomsbury wurde ständig von Freud und dem Unterbewusstsein gesprochen. Freud war ganz groß in Mode. Sie wollten Freuds Gedanken malender- und schreibenderweise zum Ausdruck bringen, sie diskutierten das Unterbewusstsein und das Über-Ich und sogar solch befremdliche Dinge wie den Penisneid. Vor diesen Themen hatte er peinlich berührt seine Ohren verschlossen und sie als Unsinn abgetan.
Bis jetzt. In der Tat war seine große Scham plötzlich aus diesem Unterbewusstsein an die Oberfläche gestiegen.
Es gab nur eine Möglichkeit, sich von dem schmerzlichen Gefühl zu befreien, das ihn, wie sehr er es auch zu unterdrücken suchte, immer dann heimsuchte, wenn er es am wenigsten erwartete.
Er wollte seiner Mutter Maren Kristine einen langen Brief schreiben. Alles erzählen, die reine und volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wie es in Deutschland bei der Vereidigung vor Gericht hieß.
*
Das Institute of Physical Culture wurde rasch sein zweites Londoner Zuhause. Er erschien dort bei Sonnenaufgang und verließ die Räumlichkeiten erst in der letzten Abenddämmerung. Elektrisches Licht verschmähte er.
Der Turnsaal war einst ein Restaurant gewesen und besaß daher große Fenster und eine große Tanzfläche aus dunklem, patiniertem Eichenparkett. Von den Wänden des Saals zurückgeworfene blaue Reflexe mischten sich mit dem gelben Licht aus den gegenüberliegenden Fenstern. Dazwischen bewegten sich Männerkörper, die allen Theorien über die Degeneration des modernen Menschen widersprachen.
Man hatte die Wahl, sich entweder der Faulheit hinzugeben oder zu trainieren.
In diesem Punkt wurde Eugen Sandow persönlich. Sverre sei zwar der geborene Athlet, habe seinen Körper aber durch sein Faulenzerdasein jahrelang vernachlässigt. Was sich nicht leugnen ließ.
Schon bald verbrachte Sverre seine Zeit am Institut nicht nur mit Malen, sondern er trainierte auch unter Sandows persönlicher Anleitung. Das machte Sinn, denn die athletische Tätigkeit am eigenen Körper zu erproben ermöglichte ihm ein besseres Verständnis dessen, was er schildern wollte. Seine Malerei veränderte sich. Kräftigere Pinselstriche gaben die Körper stilisierter, weniger fotografisch exakt wider, sodass sie entfernt an Illustrationen aus medizinischen Handbüchern erinnerten.
Zu Hause in Bloomsbury bediente er sich einer entgegengesetzten Technik. Als ihm Margie vorschlug, ihm nackt Modell zu sitzen, konnte er natürlich nicht ablehnen. Teils weil die Freundschaft der Bloomsbury-Gruppe und der gemeinsame Grundsatz, nichts sei peinlich, das unmöglich machten, teils weil es eben Margie war.
Das Atelier befand sich ganz oben im Haus im dritten Stock, wo es am hellsten war. An den Wänden lehnten Stapel seiner Athletenbilder.
Und mittendrin saß Margie.
Nachdem er das anfängliche Gefühl des Verbotenen und Peinlichen überwunden hatte, entstanden in rascher Folge verschiedene Variationen in Matisse-ähnlicher, moderner Linienführung, gewissermaßen von der Idee einer nackten Frau bis hin zu einer realistischen, jungen, bildschönen, nackten Margie.
Anschließend entstand eine Serie auf einem ungemachten Bett, in dem sie mit aufgestütztem Ellbogen dem Betrachter direkt in die Augen schaute. Er versah ihre Konturen mit Gegenlicht, das ihre Haut schimmern ließ. Das Hintergrundlicht kontrastierte mit ihren dunklen Augen und ihrem ebenso dunklen kurzen Haar und den noch dunkleren Schamhaaren im Vordergrund.
Während er verschiedene Variationen ausprobierte, kristallisierte sich die eigentliche Idee heraus. Er wiederholte die Bettszene mit kleinen, fast unmerklichen Veränderungen. Zu Anfang sah man eine schläfrige junge Frau, die, soeben erwacht, sich ihrer Nacktheit nicht bewusst war und keinerlei erotische Gedanken hegte. In der nächsten Fassung des Bildes ließ sich dann ein solcher Gedanke erahnen, danach war er deutlich zu erkennen, und so ging es
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