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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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sondern ihm auch ein von Kunst, Freundschaft, Liebe und intellektuellem Diskurs erfülltes Leben bieten.
    Aus historischer Perspektive war das nur gerecht. Im 15. Jahrhundert waren seine Vorväter als äußerst erfolg­reiche Viehdiebe in Wiltshire zu Geld gekommen, die sich mit der ebenso schurkenhaften, konkurrierenden Familie Long befehdeten. Später hatten sie unter den Tudors bei Hofe an Einfluss gewonnen, und zwar ironischerweise als Sheriffs und strenge Hüter des Gesetzes. Als Junge hatte er die gesamte Genealogie auswendig lernen müssen, inzwischen verschwamm das alles in seinem Gedächtnis, es handelte sich ohnehin um einen peinlichen Anachronismus.
    Wie auch immer, diese Räuberbarone, die sich seine Vorfahren nannten, hatten sich nach und nach auf Kosten anderer großen Besitz, viel Geld und ein bequemes Leben angeeignet. Es war also durchaus an der Zeit, dass ein nachgeborener Weichling zumindest einige Scherflein zurückgab.
    Solche peinlichen, unangenehmen Gedanken hatte er seit seiner Jugend immer verdrängt. Man hatte mit aufrechtem Selbstverständnis ein Manningham zu sein. Er konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater ihm gegenüber jemals eine andere Möglichkeit angedeutet hätte. Das war etwas, worüber nie gesprochen wurde. Nicht einmal seine Bloomsbury-Freunde griffen dieses Thema jemals auf, obwohl sie sonst alles andere als zartfühlend waren. Auch sie fanden es vermutlich peinlich.
    Und auch er schüttelte nun diese peinlichen Gedanken ab, als ihn eine kalte Windbö in die Gegenwart zurückholte. Sie befanden sich bereits den zweiten Tag im norwegischen Fjell auf einer Höhe von über 4000 Fuß. Er knöpfte auch noch den obersten Knopf seiner Tweedjacke zu und schaute in den Himmel. Das grelle Sonnenlicht war einem diffusen Grau gewichen, als ob es gleich schneien würde, was ihn nicht sonderlich bekümmerte. Er lag auf einem Hang ein paar Hundert Meter von dem fast fertigen Bahnhof in Finse entfernt mit Blick auf den Hoteleingang. Gleichgültig, wie sich das Wetter entwickelte, er würde sich bei Lady Alice in Sicherheit bringen können. Aber wo waren Sverre und Margie? Sverre hatte in seinem schweren Rucksack zwar Ausrüstung für alle Eventualitäten dabei, darauf hatten die gebirgserfahrenen Norweger im Hotel bestanden, da selbst das angenehmste Wetter trügerisch sein könne. Sie würden also zurechtkommen. Aber trotzdem war er beunruhigt.
    Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich mit einem nicht übermäßig verstauchten Fuß rausgeredet hatte, der nicht so wehtat, dass er sie nicht hätte begleiten können. Wieder eine dieser kleinen Lügen, die er in diesem Moment gerne rückgängig gemacht hätte.
    Jenseits des Berges hatte sich ein riesiges weißes Ungeheuer aufgerichtet, schwebte anfangs sachte heran, bran­dete dann aber unter zunehmendem Gedonner auf ihn zu. Wie verhext stand er da und starrte in das Schneetreiben hinauf, das ihn bald gänzlich eingehüllt haben und ihm schlimmstenfalls die Sicht rauben würde. Irgendwo in dieser fürchterlichen Naturkraft befanden sich Sverre und Margie, die einzigen Menschen, die er wirklich liebte.
    So war es, obwohl er sich dessen bisher noch nicht mit dieser Deutlichkeit bewusst geworden war. Jetzt stieg dieser Gedanke an die Oberfläche und lähmte ihn, obwohl tatkräftiges Handeln angebracht war. Eigentlich hätte er sich schnellstmöglich zum Hotel begeben sollen, solange er es noch sehen konnte, trotzdem stand er reglos und mit hängenden Schultern da.
    Da erreichte ihn der Wind, die ersten spitzen Schneekörner trafen seine Wangen und Augen, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt, und erst jetzt setzte er sich eilig durch die zunehmende Dunkelheit in Bewegung. Als er nicht mehr rennen konnte, weil er befürchtete, in dem Geröll zu stolpern, peilte er ein letztes Mal den Bahndamm an, auf dem noch die Schienen fehlten. Von dort waren es weniger als zwanzig Meter zum Hoteleingang, den er nur noch undeutlich im Schneegestöber ausmachen konnte. Er zwang sich, weiterzugehen, zog entschlossen den Kopf ein und kniff die Augen zu. Die Kälte kroch ihm bereits unter die Tweedjacke, über den Rücken bis zu den Schultern, vom Bauch zur Brust und natürlich die Waden hinauf, da er nur dünne Sommerstrümpfe trug. Als er am Morgen das Hotel verlassen hatte, war definitiv noch Sommer gewesen.
    Als er endlich den Bahndamm erreichte, war der Wind so stark, dass er sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte.

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