Die Brueder
drohende Gefahr aufmerksam zu machen, erklärte man ihn zum Volksfeind, der die wirtschaftlichen Verhältnisse untergraben wollte. Er musste sich entscheiden, ob er sich unterwerfen oder aus Wahrheitsliebe untergehen wollte.
In der Romankunst gab es natürlich diesen extremen Realismus schon lange, aber auf der Bühne nahm es sich ganz anders aus. Warum konnte das Theater nicht als letzte Bastion der unbesudelten Kunst davor bewahrt bleiben, sich für die Politik prostituieren zu müssen?
Diese Frage hatte sich ihm aufgedrängt. Und wie gewöhnlich waren sie sich alles andere als einig gewesen, als sie nach der Vorstellung die Straße überquerten, um in dem überfüllten, aber charmanten Hotelrestaurant im Wiener Kaffeehausstil zu dinieren. Der Lärm war ohrenbetäubend und wurde nur gelegentlich halbherzig von einer Kapelle und dem Knallen von Champagnerkorken übertönt. Die Stimmung im Lokal war ausgelassen wie am Nationalfeiertag, dem Geburtstag des Königs, dem zweiten Jahrestag der Selbstständigkeit oder etwas Ähnlichem. Aber Sverre versicherte, dass kein besonderer Grund für die Munterkeit der Gäste vorlag, die ihm ebenfalls ganz fremd war.
Auf dem Weg vom Theater hatten sich ihnen vier gleich gesinnte Männer angeschlossen, ein paar Blicke und ein Lächeln hatte die Frage rasch geklärt, und nach einigen wohlorganisierten Zufällen erhielten sie Tische nebeneinander. Die anderen Gäste mussten den Eindruck haben, die sechs Männer gehörten zur selben Gruppe, da sie im Unterschied zum übrigen Theaterpublikum Fräcke trugen.
Wenig später hatte man sich miteinander bekannt gemacht. Die vier Norweger gehörten einem Verein für Kultur und Geselligkeit für Gentlemen an, der zufälligerweise am folgenden Abend ein weiteres Schauspiel von Ibsen aufführen wollte, allerdings in geschlossener Gesellschaft, da das Theaterstück verboten war.
Das war natürlich unwiderstehlich spannend, sowohl die Tatsache, dass es in dieser kleinen Stadt einen Herrenclub für Gleichgesinnte gab, als auch dass sie die Möglichkeit bekamen, ein verbotenes Theaterstück anzuschauen. Ein pikantes Detail war auch, dass die vier Norweger Juristen waren, zwei Anwälte und zwei Richter. Immerhin war ihre Art des Umgangs strafbar. Aber wie einer von ihnen in erstaunlich gutem Deutsch scherzte, es sei sowohl praktisch als auch weise, dass die Sünde von den Gesetzeshütern selbst kontrolliert würde.
Das Clublokal mit einem kleinen Theater im Nachbargebäude lag einen kurzen Spaziergang von ihrem Hotel entfernt in einer der großen Querstraßen der Allee.
Das verbotene Stück des Nationaldramatikers des Landes – was ungefähr so absurd war, als hätte man George Bernard Shaw in London verboten – handelte von Gespenstern aus der Vergangenheit, die Rache und Genugtuung forderten und vor denen es kein Entkommen gab, nämlich den Gespenstern der verbotenen Sexualität und der Syphilis.
Die Diskussion tobte noch Stunden nach der Vorstellung, nach der man sich im Saal des Clubs versammelt hatte. Einen Engländer verwunderte es natürlich nicht im Geringsten, dass die Behörden Kunst über unerlaubte Sexualität verboten. Überraschender war, dass offenbar viele der Gleichgesinnten dieses Verbot unterstützten, ganz besonders vehement zwei der Juristenfreunde vom Vorabend.
Die Diskussion hätte taktvoller verlaufen können, wenn Margie nicht plötzlich begonnen hätte, die ganze Gesellschaft auszuschimpfen.
Dies war natürlich ungemein peinlich, im Rückblick aber nur noch komisch.
Bei genauerem Nachdenken war es mehr als komisch. Sie führte Improvisationstheater auf, genauso eine moderne, extrem realistische Szene, in der die Schauspieler ohne jedes Manuskript augenscheinlich unumwunden drauflosredeten.
Margie hatte von Anfang an die Oberhand. Sie war die einzige Frau in der Gesellschaft und hatte nur mithilfe einer improvisierten Ausnahmegenehmigung Zugang erhalten, da sie Ausländerin war und sich in Gesellschaft der beiden geladenen Gentlemen befand.
Die Unterhaltung fand auf Deutsch statt, was natürlich Sverre und Albie gewisse Vorteile verschaffte. Niemand konnte jedoch ahnen, dass dies auch Margie begünstigte, da sie anfangs wohlerzogen schwieg und die Unbedarfte spielte.
Als ihr schließlich der Geduldsfaden riss und jene andere Seite ihrer Persönlichkeit, die im Bloomsbury-Kreis geformt worden war, die Oberhand gewann, war das umso eindrücklicher. Ihr Ausbruch kam vollkommen überraschend und
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