Die Brueder
sich immerhin die letzten zwölf Jahre in zivilisierten Gegenden aufgehalten, und dort ist ihm vielleicht sein norwegischer Schwung abhandengekommen.«
»Das wage ich zu bezweifeln. Er wirkt genauso gesund und stark wie sein älterer Bruder, und der ist nicht totzukriegen, das muss ich sagen.«
»Kennen Sie seinen Bruder?«
»Sehr gut. Ich zähle ihn sogar zu meinen Freunden. Aber jetzt habe ich vielleicht zu viel verraten. Darüber müssen wir später ausführlicher sprechen, denn jetzt habe ich eine Menge zu tun. Wenn Sie mich also entschuldigen würden, Lord Albert?«
»Natürlich. Vielen Dank für den Tee. Ich möchte Sie wirklich nicht aufhalten«, erwiderte Albie rasch und machte sich mit seiner Teetasse auf den Weg in sein Doppelzimmer.
Dort zog er seine vom Schnee durchnässten Kleider aus und legte sich unter eine der beiden dicken Daunendecken. Mit solchen Decken bräuchten wir keine Wärmflaschen, dachte er, um an etwas anderes als an Sverre und Margie draußen im Schneesturm zu denken. Aber es nützte nichts, vor seinem inneren Auge sah er, wie die beiden von dem Schneesturm, der ums Haus pfiff, verschluckt wurden.
Lady Alice war davon überzeugt, dass die Gäste rechtzeitig zum Abendessen wieder zurück sein würden, er musste sich mit diesem Bescheid begnügen.
Lady Alice war eine bemerkenswerte Frau mit einem bemerkenswerten Schicksal. Bereits bei der Begrüßung hatte sie festgestellt, dass sie gewissermaßen Cousine und Cousin waren. Was wohl eine englische Adelige dazu bewogen hatte, das Leben mit einem armen Eisenbahningenieur, einem Norweger, in einer der abgelegensten Gegenden Europas zu teilen? Sicherlich steckte eine fantastische, vielleicht auch eine erbauliche Geschichte dahinter. Blieb nur zu hoffen, dass sich die Gelegenheit ergab und Lady Alice sie erzählen würde. So intim waren sie noch nicht, aber das konnte noch werden, falls Sverre, Margie und er selbst noch etwas länger in den Bergen blieben.
Hatten sie sich da draußen im Schnee eingegraben? Hatten sie das herannahende Unwetter rechtzeitig bemerkt? Hatte sich Sverre die Mühe gemacht, die schweren Rentierfelle mitzuschleppen, obwohl das Wetter am Morgen, als sie aufgebrochen waren, so perfekt gewesen war? Hatten sie Proviant für die Nacht dabei? Konnten sie Feuer machen?
Nein, es nützte nichts. Seine Schreckensfantasien halfen weder ihnen noch ihm selbst. Weg damit!
Er wollte lieber an Ibsen denken, ein ausgezeichnetes Thema, über das sie ausgiebig diskutiert hatten.
War er wirklich ein großer Dramatiker oder nur ein ungewöhnlich kühner Modernist? Wie wären die beiden Stücke, die sie in Kristiania gesehen hatten, wohl in London aufgenommen worden? Die Aufführung des einen Stückes, das auch in Norwegen verboten war, hätte zweifellos einen Skandal hervorgerufen.
Das neu errichtete, in seinem englischen Baustil etwas deplatziert wirkende Nationaltheater hatte ihrem Hotel gegenübergelegen. Albie fühlte sich an eine kleinere Version der Royal Albert Hall erinnert, roter Backstein, dekorativ mit grauem Granit abgesetzt. Es war ihnen gelungen, eine Loge im ersten Rang zu mieten. Sverre hatte hinter Margie und Albie gesessen und flüsternd übersetzt. Das Erlebnis war recht ambivalent gewesen, denn alles hatte wie Theater ausgesehen, ohne es jedoch zu sein. Der Theatersalon hätte sich genauso gut in London befinden können oder in einer anderen europäischen Großstadt, und auch das Publikum wirkte wie das englische.
Aber die Vorstellung war, verglichen mit englischen Vorstellungen, sehr ungewöhnlich gewesen, und das todernste Publikum hatte kein einziges Mal gelacht, was zweifellos darauf beruhte, dass es keine Veranlassung dazu hatte. Man hätte sich kaum einen größeren Gegensatz zu George Bernard Shaw, von Oscar Wilde ganz zu schweigen, vorstellen können. Norweger schienen nicht ins Theater zu gehen, um sich einen schönen Abend zu machen und zu lachen. Kein geistreicher Humor, keine eleganten, zungenbrecherischen Sentenzen, keine Wortspiele, nichts Verspieltes, nur ein Streben nach Wirklichkeit statt Theater. Norwegischsprachige Zuschauer mussten das Gefühl haben, von ihren Plätzen realen Menschen zuzuschauen, die frei von der Leber weg sprachen, statt Schauspielern, die das Werk eines Schriftstellers aufführten. Die Handlung war ausgesprochen düster gewesen. Ein Arzt hatte entdeckt, dass das Wasser der Gemeinde mit Bazillen verseucht war. Als er aber versuchte, die Verantwortlichen auf die
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