Die Brueder
In dem dröhnenden Weiß, nein, Grau, immer dunkleren Grau, das ihn umgab, sah er seine Füße nicht mehr.
Das Gefühl des Unbehagens verwandelte sich in schieres Entsetzen. Er hatte den Bahndamm hinter sich gelassen, war noch etwa zehn Yard weitergegangen und verharrte nun schwankend im Wind, um sich zu sammeln und nachzudenken. Rufen war zwecklos. Selbst wenn er aus Leibeskräften brüllte, würde er bei dem Dröhnen des Sturms kaum seine eigene Stimme hören. Wenn er das kleine Hotel verfehlte, erwartete ihn dahinter nur die Wildnis. Blieb er stehen, würde er erfrieren, selbst wenn er sich mit dem Rücken zum Wind zusammenkauerte. Er hatte nur mit halbem Ohr zugehört, als einige der Hotelgäste beim Abendessen am Vortag beschrieben hatten, wie man sich im Schnee eingraben und so vor der Kälte schützen konnte. Aber der Schnee blieb nicht liegen. Selbst wenn sich in der Nähe eine windgeschützte Stelle fand, wusste er nicht, wie ihn das retten sollte.
Er musste sich zusammennehmen, vor allen Dingen durfte er nicht in Panik geraten und einfach losrennen. Er musste nüchtern denken, das war das Wichtigste. Er hatte den Bahndamm überquert, er hatte deutlich gemerkt, wie er die Böschung hoch- und dann auf der anderen Seite wieder hinuntergegangen war, wo er noch einmal etwa zehn Yard zurückgelegt hatte. Also durften es kaum mehr als zehn Yard zum Haus sein. Zwölf bis fünfzehn Schritte. Weiter durfte er nicht gehen.
Er hätte es mit seinem Testament genauer nehmen müssen, aber sein Tod war ihm damals in weiter Ferne erschienen. Margie würde ihre Leibrente behalten, Pennie würde wie vorgesehen heiraten, die Verlobung war bereits abgemachte Sache. Seine Mutter und Großmutter würden schlimmstenfalls das Dach über dem Kopf verlieren, wenn irgendein Cousin – er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht auszurechnen, welcher – als der 14. Earl of Manningham den Besitz und damit alle Verantwortung für die Finanzen übernahm. Falls er diesen Schneesturm überlebte, würde er ihn als eine sehr deutliche Mahnung im Gedächtnis behalten, im Leben eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, was auch immer seine Freunde zu Hause davon halten mochten. Wie eine Beschwörungsformel wiederholte er immer wieder, dass er damit beginnen würde, sobald er wieder zu Hause war.
Im nächsten Augenblick stieß er mit der Stirn gegen etwas Hartes. Erst begriff er nicht, was es war, aber seine starr gefrorenen Finger, die kaum mehr etwas spürten, ertasteten eine Hausecke. Das bedeutete zwei Dinge. Dass er sich zum einen an einer Hauswand festhalten und weiter bis zur Tür vortasten konnte, zum anderen aber nur ein oder zwei Meter davon entfernt gewesen war, das Hotel ganz zu verfehlen und sich im Unwetter zu verirren. Ein oder zwei Meter vom Tod entfernt.
Lady Alice lachte, als sie ihm im Windfang zusah, wie er sich den feinkörnigen, harten Schnee von den Stiefeln trat. Albie fiel es in diesem Augenblick schwer, das Komische an der Situation zu erkennen.
»So ergeht es einem, wenn man auf das Wetter nicht genügend achtgibt. Aber das ist nichts, was sich mit einer guten Tasse heißem Tee nicht wieder ausgleichen ließe«, meinte sie, nachdem sie ihn mit wiedergewonnenem Ernst eingehend in Augenschein genommen hatte und kopfschüttelnd Richtung Küche verschwand.
Wenig später saß Albie in Strümpfen und einer Wolljacke da und wärmte sich die Hände, die ihr Gefühl mit einem brennend-stechenden Schmerz wiedererlangten, an einer großen englischen Teetasse.
»Wäre es möglich, einen Suchtrupp loszuschicken?«, fragte er.
»In diesem Wetter keinesfalls!«, erwiderte Lady Alice kopfschüttelnd. »Sie haben doch selbst gesehen, wie es draußen aussieht. Genauer gesagt haben Sie nichts gesehen. Aber seien Sie unbesorgt, das hier ist nur eine leichte Sommerbrise, kein richtiger Schneesturm. In zwanzig Minuten ist es vorbei, schlimmstenfalls dauert es zwei Stunden.«
»Zwei Stunden!«
»Ja, zwei Stunden. Aber glücklicherweise sind ja alle dort draußen mit Ausnahme Ihrer Schwester Norweger, sie befindet sich also in guter Gesellschaft. Dieser Menschenschlag ist anders als wir beide, Lord Albert. Sie haben die angemessene Ausrüstung dabei und kehren mit einem Mordshunger rechtzeitig zum Abendessen zurück. Dann werden wir uns einen richtig netten Abend machen. Mit anderen Worten, kein Grund zur Besorgnis.«
»Mein Freund Mr. Lauritzen ist sicher Norweger, zugegeben«, murmelte Albie missvergnügt. »Aber er hat
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