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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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Geist löst sich vom Flug der Geier und eilt sogleich den glänzenden Lauf des Vaters aller Ströme aufwärts. Der Trampelpfad im hohen Gras, das Bergheiligtum, das Brombeergestrüpp …
    Als sich Ekos Hand um ihre Schulter schließt, atmet sie die eiskalte Luft tief ein. Sie spürt, wie sie ihr brennend durch die Kehle bis in die Lunge dringt. Es müsste nach Torf und Rinde riechen. Die Gerüche des Morgens. Doch sosehr Neera die Luft einsaugt, sie riecht nichts mehr. Nicht einmal den Fels, das Eis oder das Wasser. Sie öffnet die Augen. Es eilt. Es gibt keine Zeit zu verlieren.

7
    Neera hat sich in Ekos Arme geflüchtet. Wie ein Kind liegt sie auf seinen Knien. Er spricht leise auf sie ein, beruhigt sie. Sie wird seinen Schutz und seine Unterstützung brauchen, denn unmöglich kann sie in ihrer körperlichen Gestalt auf den Berg steigen. Im Licht des Vatergestirns ist das zu gefährlich, und in der Schwärze der Nacht undenkbar.
    Neeras Finger schließen sich um die Bernsteinperle an ihrem Hals. Sie leuchtet sonderbar kalt in ihrer hohlen Hand. Die Stärke des Lichts verändert sich, nimmt bald zu, bald ab.
    Sie konzentriert sich. Auf keinen Fall darf Gäas Kraft sie in dem Augenblick verlassen, da sie sich von ihrem Körper löst und ihren Geist nach oben in die Zuflucht des Heiligtums schickt. Sie schließt die Augen und legt ihre Finger mit aller Kraft um die Perle, die zu schimmern beginnt. Ein leichter Impuls … Auf keinen Fall darf er zu stark sein, damit keine Bewegung an der Oberfläche der Macht entsteht. Solche Bewegungen nimmt der Erzfeind vor allem wahr.
    Es ist geschafft. Neera spürt, wie ihr Geist sie verlässt, gleich einem Seufzer, der den Lippen entflieht. Während sie aufsteigt, fühlt sie die warmen und beruhigenden Hände des Jägers auf ihrer Haut, gleichzeitig sieht sie, wie sich ihr Körper von ihr entfernt, als liege sie im Sterben.
    Neeras Wesenheit ist jetzt in die Grotte gelangt. Es ist kalt und riecht nach Feuer, Leder und Schattenblume. Doch selbst dort stehen diese Urgerüche im Begriff dahinzuschwinden. Sie sind nur noch schwach wahrnehmbare Fäden des immer schwächeren Gewebes, das den Zugang zum Heiligtum kaum noch schützt.
    Neeras Wesenheit streift über den sandigen Boden. Sie
nimmt eine Gestalt wahr, die mit gekreuzten Beinen vornübergebeugt ganz hinten in der Grotte sitzt. Von sternförmig angeordneten Talglichtern geht ein fettiger Geruch aus, der sich in der Luft verteilt. Ihr Schein fällt auf das dichte graue Haar vor Alya Steinhauts Gesicht. Die Verehrungswürdige scheint zu schlafen. Sie ist so abgemagert, dass man glauben könnte, ihr Fleisch und ihre Knochen hätten sich in der Wärme der Lichter allmählich aufgelöst.
    Neeras Hauch hebt die Haare der Verehrungswürdigen, die sacht auf ihre Schultern zurückfallen. Die junge Aïkan konzentriert sich. Sie muss jetzt ihren Herzschlag nach und nach bis zum Stillstand verlangsamen. Oder besser noch, sich des Herzens Ekos bedienen, denn sie braucht alle verfügbare Energie, um mit der Sterbenden Verbindung aufzunehmen.
    Eko zittert, als er spürt, wie Neeras Haut unter seinen Fingern kälter wird. Ihr Herz hat soeben aufgehört zu schlagen. Ein kaum sichtbarer weißlicher Hauch kommt aus ihrem Mund. Dann verblasst der Rosaton auf den Lippen der jungen Frau, ihr Kinn zittert leicht und wird starr. Eko schließt die Augen und drückt Neeras Leib an seine Brust.

8
    Frei von ihrer Hülle schwebt Neeras Geist durch die Höhle. Ihr ist bewusst, dass der geringste Luftzug sie zerstreuen und den Dunst, den ihre Gedanken und Erinnerungen bilden, jederzeit zerreißen kann. Während sie sich wieder mit ihrer fleischlichen Existenz vereinigt, spürt sie nach und nach ihren Körper. Zwar handelt es sich dabei lediglich um eine Projektion ihrer Empfindungen, doch spürt sie allmählich den sandigen Boden um ihre Knie
herum und merkt, wie sich die Umrisse ihrer Glieder erneut herausbilden.
    Vollständig unbekleidet kniet sie zu Füßen der Verehrungswürdigen. Sie friert. Eine Aïkan ist nie verletzlicher, als wenn ihr Herz zu schlagen aufgehört und ihre Wesenheit ihren Körper verlassen hat. Es handelt sich um den Zustand des Ghan-Tek, die äußerste Projektion, eine mentale Technik, die ausschließlich Verehrungswürdigen Müttern verfügbar ist, und auch das nur im Falle äußerster Bedrängnis.
    Von ferne hört sie Ekos Stimme in ihrem Geist. Sie hat viel zu viel Energie verbraucht. Allzu viel Zeit ist verstrichen, seit ihr

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