Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Herz aufgehört hat zu schlagen. Der Körper der jungen Frau beginnt, in den Armen des Jägers zu erstarren. Er empfindet Beklemmung. Er ist betrübt. Neera kann nichts daran ändern. Sie ist in die mentalen Welten eingetreten, die Alyas Geist hüten, und muss sich jetzt so rasch es geht zu erkennen geben, auf die Gefahr hin, dass die Verehrungswürdige sie für den Erzfeind hält und mit einem einzigen Gedanken tötet. Die Stimme der jungen Aïkan hallt in der Stille: »Erdmutter, ich bin Nee ra Ekm Gila, die letzte Aïkan des siebten Stammes der Mondleute. Eis, Klippen und dichter Nebel bilden meinen schützenden Kreis, dennoch trete ich völlig entblößt und ohne Waffen vor dich hin und wende mich an dich, Erdmutter. Bei dem Bernstein, den ich trage, bitte ich dich, mich als Wesenheit deiner selbst und demütigen Bestandteil des Ganzen anzuerkennen, das dich ausmacht. Was ist die Klippe ohne den einzelnen Stein? Was der Baum ohne Rinde und Blätter? Was bleibt vom Wasser, von der Luft und vom Feuer, wenn Wasser, Luft und Feuer vergessen, woraus sie bestehen? Höre meine Worte, Erdmutter! Auch euch rufe ich an, Leuchtendes Vatergestirn und Mondmutter. Ich stehe nackt vor euch und empfinde keinerlei Furcht, denn ich
bin Neera Ekm Gila, die letzte und jüngste eurer Dienerinnen.«
Keine Antwort. Neera spürt, wie sich Ekos Herzschlag verlangsamt. Sie muss jetzt unbedingt Alyas mentale Schranken überwinden, um jeden Preis eine Möglichkeit finden, mit dem noch funktionierenden Teil von deren Geist in Verbindung zu treten. Sie sucht in ihrem Gedächtnis nach einer gemeinsamen Erinnerung, die nur sie beide kennen können. Erneut sieht sie die dichten Wälder vor sich, in deren Mitte sie sich mit Alya Steinhaut ergangen hat, als sie selbst noch ein Kind war. Sie erinnert sich an die Berührung der rauen Hand der Alten, die sich um ihr winziges Händchen schloss, als ihr gemeinsamer Weg sie zwischen Farnen und Riesenbäumen dahinführte. Sie erinnert sich daran, dass die Brise den Geruch von Herbstlaub mit sich trug. Daran und an das Summen der Insekten, die während des Sommers in der heißen reglosen Luft tanzten. Daran und an den Geruch von Regen, Eis und gefrorenem Stein, der im Winter dicht über dem Boden dahinkroch, wenn der Wind die Lippen peitschte und die Gesichter rötete.
Während Neera die Augen schließt, sieht sie den Tag wieder vor sich, an dem sie in Schluchzen ausgebrochen war, nachdem sie mit dem Fuß an einer Baumwurzel hängen geblieben war und sich den Knöchel verrenkt hatte. Mit beruhigenden Worten hatte die alte Alya die Bänder von Neeras Fellschuhen gelöst und mit einem rauen Finger über das geschwollene Gelenk gestrichen. Ihr Fuß war doppelt so dick gewesen wie sonst, und ein lila Halbmond wurde zusehends größer. Tapfer hatte sie ihre Tränen heruntergeschluckt, während Alyas Finger immer wieder über die Stelle strich und eine sonderbare Wärme von sich gab, die sich ihrem ganzen Fußgelenk mitteilte. Als die Alte dann ihren Finger fortnahm, hatte der Schmerz
den verletzten Knöchel wie ein wildes Tier erneut angesprungen. Während ihr dicke, salzige Tränen in die Augen traten, hatte Neera zugesehen, wie Alya Steinhaut einige Wurzeln mit geheimen Kräften ausgrub und sie lange in einem steinernen Mörser zerstampfte. Jetzt kommt ihr der Geruch in Erinnerung, der nach und nach dabei aufgestiegen war, während sich die Pflanzenfasern und Steinbröckchen mit dem Speichel der Alten vermischten: Minze, Felsgestein und etwas Süßliches. Dann hatte Alya Steinhaut die grünliche Paste auf einem Fellstück verstrichen, es vorsichtig um das Fußgelenk des Kindes gewickelt, und sogleich hatte der Schmerz nachge lassen. Anschließend hatte sie einen weiteren, etwas festeren, Verband darumgelegt und Neera mit überraschender Kraft auf ihre Arme genommen, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Eine sanfte und gemessene Kraft. Die Kraft eines Mannes.
Lange hatten sie geschwiegen, während Neera in den starken Armen der Alten die Baumwipfel betrachtet hatte. Die Verehrungswürdige war langsam weitergegangen und hatte darauf geachtet, dem Kind keine unnötigen Schmerzen zu bereiten. Weil ihr Fußgelenk unter Alyas linderndem Pflaster nach wie vor schmerzte, hatte Neera sie gefragt, warum sie nicht Gäas Macht benutzt habe, um die Wunde zu heilen.
»Na hört mal, Ekm Gila, habt Ihr das immer noch nicht begriffen?«
»Was, Mutter?«
»Alles ist Macht. Die Bäume, die Felsen, die Pflanzen. Jeder Mundvoll
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