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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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Eko liebt sie.
    Holly verzieht das Gesicht, als sie die Bilder im Geist der jungen Frau entdeckt. Die beiden liegen unter Fellen ineinander verschlungen mitten in einem riesigen Wald. Nahe einem Feuer, dessen Widerschein die niedrig hängenden Äste der Bäume um sie herum schwach erhellt. Holly beißt sich auf die Unterlippe. Soeben hat sie andere Bilder im Geist der jungen Frau erkannt: Erinnerungen an Wölfe und Blut, an Regen und Wind, an den Geruch von Brombeerranken und feuchter Erde. Das Bewusstsein des Mädchens vermengt sich mit dem der jungen Frau. Sie spürt,
wie Ekos Herz unter ihrer Hand rascher schlägt. Soeben hat er die Frau wiedergefunden, die er liebt. Gemeinsam erinnern sie sich an das, was vor vielen Jahrhunderten geschehen ist, als sie den wilden Tieren im Wald von Kaïrn entkommen waren.

6
    Neera sitzt mit gekreuzten Beinen im Schutz riesiger Brombeerhecken, welche die Ausläufer des Hügels bedecken, der als Heiligtum und als Zuflucht dient. Im Mondschein erstreckt sich ringsum die Ebene, so weit das Auge reicht. Ein breiter Streifen niedergetretener Halme zieht sich unübersehbar durch das Grasland. Diesen Weg haben Neera und Eko zusammen mit den anderen Jägern seines Trupps genommen und gleich ihnen ihre Schritte und ihren Geruch mit dem der Büffelherde vermischt, die ihn durch die Ebene gebahnt hatte. Den ganzen vorigen Tag und die letzte Nacht ihrer Flucht waren sie dort entlanggezogen, tief gebeugt, um nicht entdeckt zu werden, bis sie schließlich von ferne die felsigen Ausläufer des heiligen Hügels erkannten. Die Haut der Erdmutter.
    Neera hebt den Blick und sieht durch die dornigen Zweige des Brombeerdickichts zum Himmel empor. Die Morgendämmerung steht unmittelbar bevor. Sie spürt das an der Wärme der Erde unter ihren Händen und am Gesumm der Insekten im Gras, aber auch an ihrem knurrenden Magen. Seit vier Tagen hat sie außer einer Handvoll saurer Beeren und einigen nach Erde schmeckenden Wurzeln nichts gegessen. Getrunken hat sie am Vorabend am Ufer eines Baches nur einige Schlucke eiskalten Wassers. Dazu hatte sie die dünne Eisschicht zerbrechen müssen, die es bedeckte. Sie erinnert sich, wie das eisige Wasser in
ihre Lippen gebissen und ihre Kehle verbrannt hatte. Das Wasser der Erdmutter. Wann immer die Jäger des Stammes in der Dunkelheit ihren Weg finden wollten, befragten sie bei klarem Himmel die Sterne und tranken das Wasser der Bäche, wenn er bedeckt war. Auf diese Weise konnten sie sich mühelos orientieren. Jetzt aber, da Neera und ihre Hüter das Heiligtum erreicht haben, scheinen die Gerüche über dem grasbewachsenen Pfad zu verfliegen. Sie werden stumpf und kalt, wie der Geruch der Haut, den bloße Füße auf Kieseln hinterlassen. Die Todesqualen der Erdmutter.
    Die Hände flach auf den Boden gelegt, spürt Neera leichte Erschütterungen. Etwas weit Schlimmeres als der Aufruhr der Insekten oder das Abschlachten ihres Stammes ist geschehen. Etwas, das die Macht Gäas in höchstem Grade ins Wanken gebracht hat. Man könnte glauben, dass die Kräfte der Erdmutter im Schwinden begriffen sind. Neera spürt, wie ihr die kaum wahrnehmbaren Erschütterungen gleich winzigen Wasserfäden durch die Finger rinnen. Sie kommen von überall her, schlängeln sich durch das Gras, pflanzen sich unter der Erde und in der Luft fort. Zu Millionen erklimmen sie die Hänge des heiligen Hügels.
    Mit geschlossenen Augen befragt Neera die Wellen unter ihren Fingerspitzen. Sie muss unbedingt wissen, was geschehen ist. Sie fängt Spuren von Bildern auf, von blutroten Flecken, umgestürzten Bäumen, ausgetrockneten Bachläufen, Flüssen voller Moos und Strömen, in deren schwarzen Wassern Tierkadaver und Menschenleichen treiben. In großer Ferne, dort, wo die Sonne untergeht, nimmt sie einen dichten schwarzen Nebel wahr, der sich über die Ebene legt und dabei alles in seiner Reichweite verschlingt. Endlich begreift sie, warum der Wald von Kaïrn so verlassen und still war. Die große Leere. Der Erzfeind, der Allesverschlinger. Diesem Nebel versuchen die letzten Überreste
von Gäas Macht zu entrinnen, indem sie auf heimlichen Pfaden dem Bergheiligtum entgegenstreben.
    Jetzt lenkt Neera ihre Aufmerksamkeit in die Richtung, aus der die Gefahr kommt. Angefangen hat es jenseits der großen Ebene, inmitten hoch aufragender Berge, von denen sich eisige Wasserläufe herabstürzen. Dort ist es so kalt, dass nur überleben kann, wer über die Kräfte der Erdmutter verfügt. Das andere

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