Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
magere Mädchen auf dem Bild sieht traurig aus. Sie sitzt reglos auf einer Schaukel, scheint Angst davor zu haben, sie in Bewegung zu setzen. Maria erinnert sich daran, dass sie ganze Tage hindurch da gesessen und sich das Gartentor angesehen hatte. Eines Morgens dann hatte sie begriffen, dass der Riese aus der Krippe nicht mehr kommen würde, und hatte angefangen zu schaukeln, immer höher, immer wilder. Auf dem nächsten Bild trocknet Mama die Tränen des kleinen Mädchens, das sich die Knie aufgeschürft hat. Fast kann Maria das Brennen der Steinchen unter ihrer Haut spüren. Erinnerungen sind doch etwas Sonderbares. Sie lassen wichtige Ereignisse unberücksichtigt und konzentrieren sich auf Unbedeutendes. Mit einem Kloß im Hals betrachtet sie das nächste Bild. Ein kleiner Junge streicht dem Mädchen über die Haare. Er kann es nicht haben, dass sie weint. Marias Lippen beginnen zu zittern. Allan Parks, ihr kleiner Stiefbruder. Sie weiß, dass er es ist, obwohl sie sein Gesicht nicht erkennt. Sie hat deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie fährt ihm auf dem Foto leicht mit dem Finger über die Wange und sieht undeutlich Bilder von den Nachmittagen vor sich, an denen sie miteinander im Wald gespielt hatten. Wie gern würde sie den Geruch seiner Haut und seiner Haare noch einmal in sich aufnehmen. Sie lächelt unter Tränen. Ihr ist eingefallen, dass Allan nachts zu ihr ins Bett gekommen ist und sie gemeinsam eingeschlafen sind. Er hatte entsetzliche Angst, wenn es Abend wurde, und Maria schimpfte immer, wenn er sie dadurch weckte, dass er seine eiskalten Füße an ihren rieb. Manchmal hatte sie geknurrt, er solle verschwinden, er aber hatte sich an sie geschmiegt und ihr
ins Ohr geflüstert: »Bitte, Maria, nur zwei Minuten. Zwei Minuten, dann verschwinde ich.«
»Nur zwei Minuten, Allan, versprochen?«
»Klar, versprochen.«
Jedes Mal war Maria morgens vor Kälte zitternd wach geworden, weil Allan das ganze Federbett zu sich hinübergezogen hatte. Solche Augenblicke hatte sie am liebsten: wenn sie beim Aufwachen das Gesicht ihres kleinen Bruders im gelblichen Licht der ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens betrachtete. Er sah so entspannt und glücklich aus. Als wisse er, dass die Nacht vorüber war und ein langer Tag ihn von der nächsten trennte.
Weitere Erinnerungen stürmen auf sie ein. Der Schmerz ist wieder da, liegt wie eine Natter in ihrer Brust verborgen. Die alte Schwermut, die nie verschwinden wird.
Eines Nachts hatte Maria gespürt, wie sich ihre Bettdecke hob und Allan sich an sie drängte. Er war gerade neun Jahre alt. Einige Augenblicke später hatte sie etwas Nasses an ihrem Nachthemd gespürt.
»Allan?«
»Ja?«
»Hast du in deinem Schlafanzug Pipi gemacht?«
»Ja.«
»Machst du Witze?«
»Nein.«
»Verdammt noch mal, Allan, meinst du nicht, du hättest dir einen frischen Schlafanzug anziehen können, bevor du zu mir ins Bett kommst?«
»Doch.«
»Und warum hast du das nicht getan?«
»Weiß nicht.«
»Mach es jetzt.«
»Versprochen.«
Maria war wieder eingeschlafen, hatte aber einige Sekunden
später die Augen geöffnet und mit schläfriger Stimme gefragt: »Allan?«
»Ja?«
»Hast du dir einen anderen Schlafanzug angezogen?«
»Ja.«
Schweigend hatte sie die Schlafanzughose ihres Bruders betastet.
»Allan?«
»Ja?«
»Du hast dich nicht umgezogen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weiß nicht.«
»Allan, du bist neun Jahre alt. Du kannst nicht immer einfach ›weiß nicht‹ sagen, wenn man dir eine schwierige Frage stellt. Klar?«
»Ja.«
»Und?«
»Und was?«
»Warum liegst du mit deinem vollgepissten Schlafanzug immer noch in meinem Bett?«
»Weil ich Angst hab.«
»Aber zum Kuckuck, Allan, wovor denn nur?«
Maria hatte Licht gemacht und war beim Anblick von Allans Gesicht schreckensbleich geworden. Tiefe schwarze Ringe lagen um seine Augen. Er war schrecklich blass. Blut lief ihm aus der Nase.
»Großer Gott, Allan. Was hast du?«
»Weiß nicht.«
Maria hatte die Eltern geholt. Allan wurde in die Notaufnahme des Krankenhauses von Bangor gebracht. Vier Tage später hatten sie erfahren, dass er an einer schweren Leukämie leide. Die Ärzte hatten alles versucht. Drei Wochen Chemotherapie. Erst waren ihm die Haare, dann
die Brauen und schließlich auch die Fingernägel ausgefallen. Als Nächstes lockerten sich seine Zähne. Eines Abends dann hatte ihn der Vater wieder nach Hause zurückgeholt. Maria erinnerte sich an den winzigen Körper in Paul Parks’
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