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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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kräftigen Armen. Allan war zu Beginn des Frühlings gestorben.
    Am Vorabend seines Todes hatte sich Maria ein letztes Mal zu ihrem kleinen Bruder ins Bett gelegt. Seit seine Kraft nicht mehr ausreichte, um zu gehen, suchte sie ihn auf, um ihn zu wärmen. Sie hatten nichts gesprochen, nur am Schluss, als Allan ihr gesagt hatte, morgen sei es so weit. Er hatte hinzugefügt, er werde am hellen Tag sterben, und es werde nie wieder Nacht werden. Maria hatte so getan, als müsse sie husten, damit er nicht merkte, dass sie weinte. Sie hatte gespürt, wie er mit seiner kleinen eiskalten Hand ihre Tränen abwischte.
    »Warum weinst du, Maria?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Na hör mal, meine Liebe, du bist fast zwölf Jahre alt. Du kannst das nicht jedes Mal sagen, wenn man dir eine schwierige Frage stellt.«
    »Ich geh dir auf die Nerven, Allan.«
    »Ich mir auch.«
    Sie hatten einen Augenblick geschwiegen, dann hatte Maria ihr Gesicht in das Kissen gedrückt und angefangen zu schluchzen. Als sie merkte, dass ihr Allan tröstend über die Haare strich, hatte sie gesagt: »Ich will nicht, dass du mich allein lässt.«
    »Nur zwei Minuten. Bitte, Maria, lass mich nur zwei Minuten sterben, dann wach ich wieder auf.«
    »Pinkel dir doch in die Hose, kleiner Blödmann.«
    Sie hatte ihre Tränen getrocknet, und sie hatten miteinander gelacht. Dann hatte sie ihn in die Arme genommen und gewartet, bis er einschlief. Eigentlich hatte sie die
ganze Nacht hindurch zuhören wollen, wie sein Herz an ihrem pochte, war aber schließlich doch eingeschlafen. Am Morgen atmete er noch, und dann war er gestorben, kurz nach Mittag.

12
    Maria hat die Fotos in den Koffer zurückgelegt. Sie hat genug von diesen Erinnerungen. Gerade als sie ihn schließen will, fällt ihr ein großer Umschlag aus braunem Papier auf. Er liegt unter einem dicken Stapel Postkarten und Briefen von alten Onkeln und entfernten Vettern und Cousinen. Die Tinte ist verwaschen, und die Wörter, Stimmen und Erinnerungen, die darin aufeinanderstoßen, haben nichts mit ihr zu tun. Eine der Postkarten sieht deutlich neuer aus als die anderen. Maria hatte sie aus dem Lager am Tahoe-See geschrieben. Man sieht darauf das tiefblaue Wasser, seine mit Kiefern bestandenen Ufer und im Hintergrund die beschneiten Gipfel der Sierra Nevada. Mit dem Füller hatte sie einen kräftigen Pfeil gezeichnet, dessen Spitze ans äußerste Ende des Westufers wies. Darüber hatte sie in Großbuchstaben geschrieben: DA STEHT MEIN ZELT!!!
    Sie dreht die Karte um. Ihr fällt ein, dass sie sie zwischen zwei Löffeln Erdnussbutter geschrieben hatte, unmittelbar bevor sie wieder zu den anderen gegangen war, die nahe dem Ufer schwammen. Einige Augenblicke lang hatte sie auf der Suche nach einem Satz, der es wert war, dass sie dafür in eine Briefmarke investierte, an ihrem Füller herumgekaut und dann aufseufzend geschrieben:
     
    Ihr Lieben,
    ich verbringe hier schöne Ferien.
    Auch der See ist sehr schön.

    Gestern haben wir Kokanee-Lachse geaugelt.
    Ich habe einen Mordsburscheu gefangen!!
    Da, wo der Pfeil hiuzeigt, ist unser Zeltlager.
    Mir geht es prima.
    Und Euch?????
    Ich habe Euch sehr lieb.
    Eure Maria.
     
    Erneut beginnen ihre Lippen zu zittern. Unwillkürlich muss sie daran denken, dass es das letzte Lebenszeichen von ihr war, das ihre Mutter vor ihrem Tod bekommen hat. Sie hatte unmittelbar vor dem Rückflug nach Portland daheim anzurufen versucht. Nachdem das Telefon mehrere Male geklingelt hatte, ohne dass jemand abnahm, hatte sie wieder aufgelegt.
    Maria legt die Karte zurück und nimmt den braunen Umschlag zur Hand. Sie atmet heftiger. Quer darüber steht in der Handschrift ihrer Mutter:
    FÜR MARIA
ERST AM EINUNDZWANZIGSTEN GEBURTSTAG
ÖFFNEN.
    Sie reißt den Umschlag auf. Er enthält einen Brief und eine von den sozialen Diensten des Staates angelegte Akte. In dem Brief erklärt ihr die Mutter in einigen unbeholfenen Zeilen die Zusammenhänge. Das Papier knistert zwischen Marias Fingern. Die Mutter teilt ihr mit, dass sie nicht ihre richtige Tochter sei, dass aber Papa und sie selbst sie vom ersten Tag an lieb gehabt hätten. Sogar schon davor, denn sie hätten zehn Jahre zuvor einen Adoptionsantrag gestellt. Zehn Jahre, in denen sie ganze Berge von Liebe angesammelt hatten. Sie erklärt ihr, sie dürfe ihr nicht alles sagen und wisse auch selbst nicht alles. Eines Tages
sei jemand vom FBI gekommen und habe gesagt, er müsse eine schwierige Heranwachsende unterbringen. Ein zutiefst

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