Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
über das Gesicht.«
»Ich will hierbleiben.«
»Nein, Maria. Du bist jung und in deiner Trauer versunken. Das gibt dir nahezu alle Rechte, außer dem, von mir zu verlangen, dass ich dir ein Laken über das Gesicht ziehe.«
Als Dr. Moore gegangen war, hatte sie die Augen geschlossen. Schließlich hatte sie sich damit einverstanden erklärt, erwachsen zu werden und weiterzuleben – anfangs lediglich, um zu sehen, ob sie imstande sein würde, ihre Qualen zu ertragen. Es war eine Art Wette, die sie mit sich selbst abgeschlossen hatte: einen Tag weiterleben, dann zwei, dann hundert. Weiterleben, wobei sie sich sagte, dass sie sich immer noch von einer Brücke hinabstürzen oder mit dem Atmen aufhören konnte, wenn sich das Weiterleben als unerträglich erwies.
Allmählich war der Schmerz zurückgewichen. Man hatte
sich um ihre Albträume gekümmert und sie vom größten Teil ihrer Medikamente entwöhnt. Eines Morgens dann hatte sie Green Plains verlassen und wie eine gewöhnliche Studentin erneut die Universität besucht. Sie war die ersten Liebesbeziehungen eingegangen, die wahrhaft schmerzen, hatte die ersten Sommer erlebt, von denen man hofft, dass sie nie enden. Nach dem Abschlussexamen war sie in die Bundespolizei eingetreten. Dort hatte sie Mark kennengelernt. Ihre gemeinsame Tochter Rebecca war zur Welt gekommen, und sie hatte eine kurze Zeit nahezu vollkommenen Glücks erlebt, ganz wie eine normale Frau. Dann hatte ein banaler Verkehrsunfall alle Zeiger wieder auf null gestellt und ihre wenigen glücklichen Erinnerungen ausgelöscht. Der große Sprung ins Nichts, ein hundsgemeiner Tiefschlag von geradezu kosmischem Ausmaß.
Ein Zittern überläuft sie, als sie spürt, wie sich in ihrer Hand der Knauf an der Schlafzimmertür ihrer Eltern ganz von selbst dreht, ohne ihr Zutun. Draußen pfeift der Wind durch die hohen Pappeln, die den Garten gleichsam als Schildwachen umstehen. Das Meer von Kiefern neigt die Häupter und hebt sie wieder. Ein Schaben auf der anderen Seite der Tür. Ein Schlurfen von Pantoffeln. Raues, pfeifendes Atmen. Sie lässt den Knauf los, doch er dreht sich langsam von selbst weiter. Ein Knacken. Die Tür springt ein Stück weit auf. Wie dunkel es auf der anderen Seite ist! Maria atmet abgestandene Luft ein. In ihrem Leben hatte sie noch nie so viel Angst. Sie lächelt. Sie lebt.
11
Sie hat es geschafft, hat das Zimmer betreten.
Sie nähert sich dem staubbedeckten großen Koffer, in dem die Adoptivmutter ihre Erinnerungsstücke aufzuheben
pflegte. Maria muss daran denken, wie viele Stunden sie gemeinsam damit zugebracht haben, die Tausende von Fotos durchzugehen, die er enthält. Wie früher als kleines Mädchen setzt sie sich im Schneidersitz auf den Boden und legt die Hände auf den Kofferdeckel. Sie hatte ihn nie allein öffnen dürfen. Sie hatte es mehrfach versucht, aber jedes Mal hatten die Scharniere gequietscht. Eines Tages hatte sie in der Küche die Mutter zwischen zwei Mundvoll Keksen gefragt, warum sie nicht an den Koffer dürfe.
»Es liegt ein Zauber darüber.«
»Na und? Das ist doch nicht schlecht, oder?«
»Nein, aber es kann gefährlich sein.«
»Wieso gefährlich?«
»Über allen Koffern liegt ein Zauber, bei manchen mehr, bei anderen weniger. Vor allem bei Reisekoffern wie dem unseren, die viel erlebt und vielen verschiedenen Menschen gedient haben. Solche Koffer haben Tausende von Geheimnissen erfahren. Sie erinnern sich daran und bewahren sie. Sie besitzen eine ganz besondere, mehr oder weniger gute Macht, je nachdem, was darin war.«
»Und welche Macht hat der da?«
»Er verschlingt Kinder, die zu neugierig sind, mit einem Happs.«
Als ihre Mutter diese Worte leise ausgesprochen hatte, war sich Maria rasch mit den Händen an den Mund gefahren. Der Mutter schien es mit ihren Worten ernst zu sein. Maria lächelt beim Gedanken an diese Unterhaltung, die sie geführt hatten, während der köstliche Geruch frisch gebackener Kekse aus dem Backofen drang. Es hatte ihr tatsächlich Angst gemacht. Liebevoll fährt sie mit den Fingern über die Metallbeschläge und das alte Leder. Knarrend öffnet sich der Deckel. Der Atem des Koffers legt sich um ihr Gesicht. Es riecht nach alten Papieren und sehr altem Parfüm. Jasmin und Moschus.
Maria legt die Hand auf die Stapel mit alten Bändern zusammengehaltener Fotos. Es sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen, aber auch Farbfotos aus ihrer Kindheit. Die ersten sind einige Monate nach ihrer Flucht aus der Krippe entstanden. Das
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