Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
er das Gefäß zurück in die Mitte des Haufens aus Staub und Knochen in der Nische. Während er dem Korridor weiter folgt, sieht er, dass jede der Nischen mindestens ein Skelett enthält, mitunter mehrere ineinander verschlungene. Paare, Mütter mit ihren Kindern, die einander noch im Sterben bei der Hand hielten. Ein Schauer überläuft ihn. Als er überall die gleiche Schale mit der gleichen bläulichen und stark riechenden Substanz entdeckt, wird ihm klar, dass dort ein kollektiver Selbstmord stattgefunden haben muss. Männer, die ihre Frauen mit einem Kuss auf den Mund getötet, Mütter, die ihren Kindern einen Löffel Gift eingeflößt haben, wobei sie sie liebevoll an sich drückten. Ihm wird übel. Die Hände vor den Mund gelegt, beschleunigt Walls den Schritt. Er muss diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.
Nach und nach merkt er, dass er den Zeitbegriff zu verlieren beginnt. Obwohl es seiner Uhr nach kaum länger als zwanzig Minuten her ist, dass er die erste Höhle betreten hat, kommt es ihm vor, als irre er schon seit Tagen in diesem von Menschenhand geschaffenen Labyrinth umher. Inzwischen ist er davon überzeugt, dass sich die prähistorischen Erbauer dieses Komplexes auf natürliche Weise entstandener Höhlen bedient haben müssen, die sie erweitert und durch Gänge verbunden haben. Mit Luft versorgt wurde das ganze System vermutlich über von oben gebohrte Schächte. Vermutlich befanden sich diese ungeheuer tiefen Höhlen damals am Boden einer riesigen Schlucht, deren Zugang im Laufe der Zeit aufeinanderfolgende Erdrutsche und die allmähliche Bewegung der Kontinentalplatten
verschlossen haben, bis nichts mehr davon übrig blieb, außer jener Erdspalte, durch die er in die Höhle gelangt war.
Dort, tief unter der Erde, hatten sich jene sonderbaren Menschen einen Zufluchtsort geschaffen. Eine gewaltige Leistung, undenkbar ohne den Einsatz von Techniken, wie sie zu einer Zeit, als der Mensch noch mit Feuersteinklingen das Fett von Tierfellen schabte, eigentlich nicht bekannt gewesen sein dürften.
Jetzt tritt Walls in einen Saal von so ungeheurer Größe, dass er dessen Wände kaum zu erkennen vermag. Als er unter seinen Sohlen etwas Raues spürt, senkt er den Blick und stellt fest, dass der Boden vollständig von tiefblauen Pflanzen bedeckt ist, die auf der Oberfläche eines Ozeans aus schweren und grauen Blättern schwimmen. Derselbe betäubende Geruch nach altem Gestein, Lilien und feuchter Erde wie zuvor erfüllt die Luft. Er ist so dicht, dass Walls eine Flüssigkeit einzuatmen glaubt. Doch während er ihn in der Totenkammer warnte, scheint er ihn hier zu beruhigen und seine Muskeln zu entspannen.
Er entdeckt, dass die am Gestein haftenden Pflanzen nicht nur den Boden vollständig bedecken, sondern auch Wände und Decke. Lediglich eine Reihe rechteckiger Stelen scheint von dieser Invasion lebender Materie verschont geblieben zu sein. Während er die Blätter unter seinen Sohlen wie Glas zerbersten hört, geht er dem vorderen Ende des Raums entgegen. Seit er die mineralischen Dämpfe einatmet, die ihn umgeben, haben seine Schmerzen nachgelassen.
9
Walls bleibt vor der ersten Stele stehen, die ihn um Haupteslänge überragt. Ihr vollkommen glatter Marmor fühlt sich kalt an, ist hart wie Granit und glänzt wie ein
Diamant. Mit einer heftigen Bewegung zieht Walls die Hand zurück. Einen Augenblick lang hatte er den Eindruck, dass der Stein angefangen hat zu atmen, während er darüberstrich. Oder besser gesagt, dass er unter seiner Handfläche weich wurde, als gewinne er unter der Wärme seiner Hand Leben. Erneut berührt er ihn mit den Fingerspitzen. Der Stein fühlt sich an wie eine Haut. Noch sonderbarer ist, dass Walls anfängt zu lächeln wie ein kleines Kind, das nicht einfach fröhlich oder zufrieden ist, sondern vollkommen glücklich. Seiner Erinnerung nach war er zum letzten Mal mit acht Jahren am Ufer des Pearl River so glücklich. An jenem Tag hatte ihn sein Großvater angestiftet, die Schule zu schwänzen, und sie waren zu zweit in dessen altem und zerbeultem Ford Pick-up davongefahren. Walls’ Lächeln verstärkt sich. Mit einem Mal bewegen sich seine Lippen, und er ruft sich zu seiner eigenen Überraschung mit lauter Stimme die Szene in Erinnerung, die da aus der Vergangenheit aufgetaucht ist.
»Gordon Hohlkopf, wenn du jeden Tag zur Schule gehst, wirst du ganz und gar lebensuntüchtig, zum Kuckuck! Ich werde dir beibringen, worauf es wirklich ankommt, zum Beispiel wie man
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