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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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Wangen fährt Walls weiter mit den Fingerspitzen über die Stelle vor der Wand der Blumenhöhle. Er erinnert sich daran, dass sein Großvater, als er seinen Aufschrei hörte, seinerseits ein wenig von dem Wasser probiert hatte und dabei totenblass geworden war. Er hatte Gordon getröstet, dann aber seine Angelrute wieder zur Hand genommen und erneut die Fliege über dem Wasser tanzen lassen. Eine ganze Weile hatten beide geschwiegen. Als die Tränen des Jungen getrocknet waren, hatte der alte Mann gesagt, ohne den Blick vom Fluss zu nehmen: »Entschuldige, Gordon. Ich wusste nicht, dass in dem Wasser Blut war.«
    »Ist das Mädchen tot?«
    »Ganz bestimmt, mein Kleiner. Aber das muss schon Jahre her sein. Gewässer bewahren die Erinnerung an solche Dinge sehr lange. Die Gerüche, die ein Fluss mit sich führt, sind sein Gedächtnis. Glaubst du, dass du das alles in einem abgelegenen Winkel deines Kopfes bewahren kannst, Gordon?«
    »Du meinst, wie ein Geheimnis? »
    »Ja, mein Kleiner, genau so. Außer du willst, dass man dich in ein Irrenhaus sperrt, dich an ein Bett bindet und dich rosa Kügelchen schlucken lässt. So, mein Junge, jetzt bist du dran.«
    Der alte Mann hatte sich hinter Gordon gestellt und dessen kleine Hände gelenkt, damit er die Angelrute richtig führte. Lange hatten sie dem Tanz der künstlichen Fliege über den Wellen zugesehen. Dann waren Gordon andere Bewegungen aufgefallen, und er hatte gesehen, wie kleine Mäuler mit scharfen Zähnen nach der Oberfläche schnappten.

    »Die Forellen, Opa! Da!«
    »Ich hab sie gesehen.«
    »Warum beißen sie nicht?«
    »Die würden schon beißen, mein Junge. Aber weil ich keinen Köder an den Haken getan habe, passiert ihnen nichts.«
    Gordon hatte sich zu seinem Großvater umgewandt. »Und wie willst du die dann fangen?«
    »Gar nicht«, hatte dieser mit einem Lächeln gesagt. »Ich will dir erst mal beibringen, wie das geht. Wenn du die richtigen Bewegungen beherrschst, mach ich einen Köder an den Haken, und dann führen wir uns eins von den jungen Fräuleins da auf einem heißen Stein zu Gemüte.«
    Wieder war Schweigen eingetreten. Das Wasser plätscherte. Es roch nach nassem Gras. Walls erinnert sich daran, gesagt zu haben: »Sag mal, Opa, in dem Wasser war noch ein anderer Geruch, der ganz aus der Nähe zu sein schien.«
    »Du meinst den nach Schwefel und Stroh, was? Donnerwetter, Gordie. Das liegt daran, dass der Fluss ein paar Kilometer lang an den Feldern von dem alten Barney da hinter dem Hügel vorbeifließt. Hast du auch die Fruchtbonbons rausgeschmeckt? Der verdammte Lumpenhund Barney düngt seine Stoppelfelder mit Arsensulfat und vergiftet damit die Kühe, die Menschen und die Fische gleichzeitig. Verstehst du, Gordie? Barney ist als Junge dauernd in die Schule gegangen. Da hat man ihm beigebracht, dass ein mit Arsensulfat gedüngtes Feld viermal so viel Ertrag bringt wie ein ungedüngtes, und so ist aus ihm ein gottverfluchter Vergifter geworden. Aber glaub mir, mein Junge, der nimmt das Geld, das er mit der Wasserverseuchung verdient hat, nicht mit ins Grab, dafür sorgen schon die Hüter der Flüsse.«
    Walls zittert jetzt im Halbdämmer. Seine Finger greifen in das weiche Fleisch der Stele. Mit einem Mal muss er
an die alte Tätowierung auf dem Unterarm seines Großvaters denken, die im Laufe der Zeit verblasst war und sich wegen seiner faltigen Haut kaum noch erkennen ließ. Eine wasserblaue Schlangenlinie zwischen zwei goldgelben Halbmonden. Walls erinnert sich umso mehr daran, weil er sie ständig vor sich gesehen hatte, während der alte Mann seine Hand lenkte, um ihm die richtige Haltung der Angelrute beizubringen. Die Hüter der Flüsse. Diese Bezeichnung war also von Jugend an in seinem Gedächtnis verankert, seit dem Tag, da ihn sein Großvater am Ufer des Pearl River in die Geheimnisse eingeweiht hatte. Alles hatte an jenem Tag begonnen, und alles kehrte zu ihm zurück. Dazu gehörte auch, dass er sich jetzt am Boden dieser tiefen Schlucht befand und mit den Fingern über die Stele fuhr. Jetzt war er fest davon überzeugt, dass ihn dieser Ort zu sich hergelockt und seine Existenz nach und nach auf sich immer enger werdende konzentrische Kreise reduziert hatte, in deren Mittelpunkt sich die Hüter der Flüsse befanden. Ihm fällt ein, dass er sich seinem Großvater zugewandt und ihn gefragt hatte: »Sag mal, Opa, was ist denn ein Hüter der Flüsse?«
    »Ein was?«
    »Ein Hüter der Flüsse. Das hast du doch gerade

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