Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
einem Mal wird der Großvater wieder ernst, nimmt die geschmeidigen Bewegungen seines Handgelenks wieder auf und sagt mit geheimnisvoller Stimme: »Hast du übrigens schon mal Flusswasser getrunken, Gordie?«
»Nein, Opa. Mutti sagt, dass das schmutzig ist.«
»Ich mag deine Mutter. Als kleines Mädchen war sie ganz prima, aber seit sie mit deinem Vater zusammen ist, erzählt sie Stuss. Die Pisse ist schmutzig, nicht das Flusswasser. Jetzt musst du trinken, Junge. Du musst den Fluss in dich reinlassen.«
Der Großvater legt die Angel hin und hockt sich ans Ufer, um mit den hohlen Händen etwas Wasser zu schöpfen. Er bedeutet Gordon, sich neben ihn zu knien.
»Riech mal, Gordie.«
10
Gordon nähert seine Nase den faltigen alten Händen. Am Grunde der Höhlung, die sie bilden, versucht ein wenig bräunliches Wasser zwischen den fest aneinandergepressten Fingern davonzurinnen. Einige Tropfen fallen auf die Wasserfläche zurück, während sich der Junge vorbeugt, um
am Wasser in den Händen des Großvaters zu schnuppern. Ein kräftiger Geruch nach Leder und Harz steigt ihm in die Nase. Der Geruch des alten Mannes. Gordon beugt sich noch einmal vor, um festzustellen, was er außerdem noch erschnuppern kann.
»Nun, Gordie, riechst du was?«
»Ja, Opa, es riecht nach Wasser.«
»Kreuzdonnerwetter, das ist eine richtige Schülerantwort. Es ist genauso, als wenn du mir sagen würdest, dass die Blume nach Blume riecht, oder die Scheiße nach Scheiße. Das Wasser hält die Gerüche des Flusses nur fest und transportiert sie weiter. Ähnlich wie der Alkohol in einem Parfüm. Ohne den Alkohol würden die Düfte davonflattern. Mit Alkohol bleiben sie, und du riechst den Alkohol nicht mehr.«
In tiefster Seele gekränkt schnuppert Gordon noch einmal kräftig alles, was den Händen seines Großvaters entströmt. Er hört dessen laute Stimme im Wind tanzen.
»Ein Fluss riecht nach allem, was das Wasser mit sich führt, nach allem, was es unterwegs aufgenommen hat. Das musst du riechen, bevor du trinkst, Gordie. Andernfalls ist es so, als wenn du Pisse trinken würdest. Aber beeil dich, weil Gerüche verfliegen und das Wasser stirbt, wenn man es zu lange zwischen den Fingern hält.«
Gordon schließt die Augen und atmet so kräftig ein, wie er kann. Das Wasser riecht nach Erde, heißen Steinen, Algen und Schlamm. Langsam verwandeln sich die Gerüche des Flusses, die seine Nase erkennt, in Bilder, die von fernen Ufern kommen, von Stellen, an denen er vorübergeflossen ist, bevor er hier ankam. Es sind waldbestandene Ufer, über denen der Duft nach Anis und Kiefernzapfen liegt, Felder, die nach Weizen und Mais riechen. Autobahnen, die am Fluss entlangführen, verpesten die Luft mit dem Gifthauch von Asphalt und Abgas. Ein schwer
zugängliches Stück Ufer an einem toten Seitenarm zeichnet sich undeutlich im Dunst ab. In dem Geruch von dort liegt Dunkelheit. Gordon erkennt am Rande des Wassers ein Gewirr von Wurzeln und abgestorbenen Ästen. Dort riecht es nach Moos und verfaulten Algen, doch noch ein Geruch treibt an die Oberfläche dieses Bildes, ein metallischer Geruch, den er nicht benennen kann. Doch er kennt den dazugehörigen Geschmack. Es schmeckt nach Fleisch und verrosteten alten Nägeln.
Er spürt, wie sich ihm die rauen Finger des Großvaters auf die Lippen legen. Das Wasser des Flusses läuft ihm in den Mund. Er schluckt alle Gerüche und Bilder nacheinander herunter. Als er spürt, wie der ferne Geruch von Abgasen seine Nasenwände bestreicht, verzieht er das Gesicht. Dann kommt der metallische Geruch. Endlich erkennt er ihn. Er hatte ihn jedes Mal im Mund, wenn er sich in den Finger geschnitten und ihn in den Mund gesteckt hat, um die Wunde mit seinem Speichel zu benetzen. Es ist der Geschmack von Blut.
Dann erkennt Gordon im Bild des mit diesem Geruch verbundenen Uferstreifens im Astgewirr einen Körper. Ein totes kleines Mädchen, verwesendes schwärzliches Fleisch, das im Wasser liegt. Wer auch immer sie auf dem Schulweg umgebracht hat, hat dort ihre Leiche versteckt.
Das Mädchen sieht Gordon mit glasigen Augen an. Mit Fingern so weich und geschmeidig wie Algen scheint sie ihn zu sich locken zu wollen. Er stößt einen Entsetzensschrei aus. Von ferne spürt er, wie ihn die knotigen Arme des Großvaters schütteln. Er öffnet die Augen wieder. Das Summen der Insekten. Das Flussufer. Die Reflexe des Sonnenlichts auf der Wasserfläche. Die Leiche des Mädchens ist verschwunden.
11
Mit Tränen auf den
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