Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
reglosen Leibern in sonderbaren Stellungen. Ein riesiger Friedhof voller Gespenster, die auf alle Zeiten im Eis gefangen sind. Schwach leuchten metallene Kreuze und schwere Medaillons, Säbel und Hakenbüchsen, deren Stahl unter dem Einfluss der Kälte kristallin geworden ist. Weiter unten glaubt er, die Leichen von Tieren und Indianern erkennen zu können. Ihrer Kleidung und rudimentären Bewaffnung nach schätzt er sie als präkolumbianische Apachen ein, die sich dann schon seit Jahrhunderten dort befinden müssten. Vom Druck des Eises sind ihre Leiber ungeheuer deformiert, die Glieder gekrümmt und die
Gesichter flach gedrückt. Weitere Indianerleichen begleiten seinen Abstieg. Je tiefer er kommt, desto stärker sind sie durch die Kälte entstellt und geschwärzt. Außerdem sieht man in der durchsichtigen Wand allenthalben Vogelspinnen, Tausende kleiner schwarzer Kugeln, die im Laufe der Jahrhunderte in den Abgrund gestürzt sind.
Die Seiltrommel gibt ein akustisches Signal von sich. Rasch wirft Walls einen Blick auf das Zählwerk: Er hat zweihundertneunzig Meter Seil abgewickelt. Nur noch zehn Meter. Fünf. Zwei. Jetzt ist es am Anschlag. Er richtet das Licht seiner Lampe nach unten. Der Strahl gleitet über die Klippen, zwischen denen in der Ferne eine enge Öffnung zu liegen scheint. Er stößt einen Seufzer aus, der sich sogleich in eine Art Nebel verwandelt. Zurück nach oben kann er nicht, denn die Batterie, die den Wickelmotor antreibt, ist so gut wie leer. Weiter absteigen kann er ebenfalls nicht, schon gar nicht mit einer inneren Blutung. Während er ein hallendes Gelächter ausstößt, stellt er sich einen Augenblick lang die Überraschung von Archäologen des 35. Jahrhunderts vor, wenn sie seine im leeren Raum hängende gefrorene Leiche entdecken. Im vollen Bewusstsein dessen, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, öffnet er den Verschluss seines Gurtzeugs, breitet die Arme aus und lässt sich stumm ins Leere fallen.
8
Walls öffnet die Augen. Soeben hat er die längste Rutschpartie seines Lebens hinter sich gebracht. Die Nadel des Höhenmessers in seiner Armbanduhr zeigt einen Druck von elfhundert Millibar. Er erinnert sich undeutlich, dass es in dem Augenblick, als er sich von seinem Gurtzeug löste, tausendsiebenunddreißig Millibar waren. Er muss sich also
mehr als tausend Meter unter der Erdoberfläche befinden und offenbar im Zustand der Bewusstlosigkeit eine beträchtliche Strecke gerutscht sein. Er spürt Schmerzen im Unterleib und an den Beckenknochen. Zum Glück hat er sich nichts weiter gebrochen. Seine innere Blutung ist allerdings nicht zum Stillstand gekommen.
Erneut spritzt er sich Morphium und richtet sich mühsam auf. Die vollständig mit Eis bedeckte Decke über ihm ist so niedrig, dass er kaum aufrecht stehen kann. In der Ferne glaubt er den Eingang zu einer Art Höhle erkennen zu können. Indem er sich an vorstehende Felszacken klammert, erreicht er ihn und gelangt von dort in einen riesigen Saal. Seine Wände sind unübersehbar von Menschenhand gestaltet. Erkennen lässt sich das an den scharfen regelmäßigen Graten, die im Lauf der Jahrhunderte stumpf geworden sind. Am anderen Ende des Saals führt ein Zugang mit gewölbtem Sturz zu einem weiteren Gang. Während Walls mit den Fingern über die Widerlager fährt, glaubt er, im Stein Reste uralter Inschriften ertasten zu können. Es sind sich kreuzende Linien, wie Adern.
Die nächste Höhle ist lang gestreckt wie ein Korridor. In den Wänden befinden sich Nischen, so hoch wie ein Mensch. Mit ihren im Lauf der Zeit zerfaserten Fellvorhängen sehen sie aus wie Schlafkojen auf einem U-Boot.
Als er in eine dieser Nischen hineinleuchtet, fährt er zusammen. Am Boden liegt ein Gerippe mit angezogenen Beinen. In der Kälte haben sich die Knochen hervorragend erhalten. Aufmerksam sieht er sich die Gelenke an. Nach Größe und Abnutzungsgrad der Knochen zu urteilen, müsste es sich um ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren handeln. Eine Verwundung oder ein Bruch ist nirgends zu erkennen. Als er mit der Hand leicht über das Becken fährt, zerfallen die Knochen, als handele es sich um eine Sandskulptur. Zwischen den Händen des Skeletts sieht
er eine Tonschale. Er nimmt sie auf. Ihren Boden bedeckt eine dunkelblaue harte und rissige Masse. Er kratzt daran, riecht an seinem Finger und verzieht das Gesicht. Es riecht nach Lilie und Moder. Wahrscheinlich irgendein Gift, das spürt er mit jeder Faser seines Leibes. Vorsichtig stellt
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