Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
in den Augen des Bengels das Aufblitzen von Verständnis erkannt. Der Junge hatte begriffen.
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Kassam kontrolliert die mehrere Dutzend Gefäße mit Zellkulturen. Jede von ihnen wird durch eine Vielzahl von Bildschirmen überwacht, die unablässig Millionen Angaben an Sequenzierungsrechner senden. Darin lag das ganze Geheimnis: Man musste das Protein als Prozessor benutzen, der die Informationen auslas. Nichts liest schneller oder besser als ein Protein. Nie gab es die kleinste Fehlermeldung, nie den geringsten Zwischenfall. Das ganze Problem bestand darin, das von den Proteinen Gelesene zurückzuschreiben. Kassam hatte die Lösung gefunden: Während sich die Techniker seit über zehn Jahren damit abmühten, die DNA-Sequenzen auf ihren eigenen Rechnern zu entschlüsseln, war Kassam auf den Gedanken verfallen, seine Rechner an die Boten-RNA anzuschließen, die der Mann aus der Fabrik ans Zellen-Montageband schickte. Das ganze Geheimnis bestand darin, die Übertragung zu übersetzen.
Als seine Leitungen erst einmal angeschlossen waren, hatten sich auf den Bildschirmen seines Labors, auf denen bis dahin die gleiche trostlose Leere geherrscht hatte wie auf denen der Stiftung, mit einem Mal leuchtende Formen und schimmernde Flecken gezeigt. Nach einer Verfeinerung und verbesserten Abstimmung seiner Übersetzungsprogramme waren die ersten Bilder der Umgebung aufgetreten, in der die jeweilige DNA existiert hatte, bevor sie den gegenwärtigen Evolutionszustand erreicht hatte. Alles war in den Sequenzen enthalten, und jeder Teil der DNA entsprach unterschiedlichen Umgebungen und Zeiträumen. Auf diese Weise erfuhr er nicht nur die Geschichte der Mumie, sondern auch die von Millionen Lebewesen, die ihr vorausgegangen waren und deren Existenz sich über diese DNA addiert hatte und weitergegeben worden war. Der Hintergrund der Menschheitsgeschichte.
Mithilfe von Vergleichen, bei denen er Übereinstimmungen und Unstimmigkeiten entdeckt hatte, war Kassam einigen der Geheimnisse im unbekannten Teil jener vorgeschichtlichen DNA auf die Spur gekommen, nämlich dem, was geschehen war, bevor sie auf der Erde aufgetreten war. Eine ganze Woche lang war er in seinem Labor geblieben, ohne die Bildschirme aus den Augen zu lassen, und hatte sich unaufhörlich Notizen gemacht. Am Ende jener Woche hatte er tiefe schwarze Ringe unter den Augen gehabt und sieben Kilo abgenommen. Endlich hatte er begriffen, was ihm das Wesen aus der Atacama-Wüste gezeigt hatte: Es war in den Sequenzen enthalten und würde erneut auftreten. Die große Seuche, das »menschliche Virus«. Dabei war er zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die einzige Möglichkeit, sich des Menschen zu entledigen über den Menschen selbst führte und nicht über die Umwelt, in der er seine Evolution durchlebt hatte. Daher hatte er sich an die Aufgabe gemacht, das genetische Virus zu entwickeln und
es so zu programmieren, dass es unmittelbar in die DNA des Menschen eingriff. Das Programm für die Auslöschung der Menschheit hatte er seit einem halben Jahr fertig. Er hatte es, Oppenheimers Gedanken aufgreifend, »Schiwa, den Weltenzerstörer« genannt. Anschließend hatte er auf der ganzen Erde Tausende von Virusstämmen in hermetisch verschlossenen Behältern verteilen lassen. Ein Heer von Mittelsmännern wartete darauf, dass er das Zeichen zu deren Vermehrung gab.
Seinen Berechnungen nach würden 99,8 Prozent der Weltbevölkerung die dabei schlagartig einsetzende Mutation nicht überleben. Die neue DNA der verbleibenden 0,2 Prozent würde das Merkmal der extremen Langlebigkeit enthalten, die das virulente Potenzial der Menschheit ein für alle Mal auslöschen würde. Als Kassam die jüngsten von seinen Rechnern ermittelten Schätzwerte liest, muss er lächeln: 99,8 Prozent Leichen, 0,2 Prozent Algen. Damit sich aber dieser Prozess nicht umkehren ließ, musste unbedingt der letzte Abkömmling jenes verwünschten vorgeschichtlichen Stammes verschwinden, der das einzige überhaupt denkbare Gegenmittel gegen das Projekt Schiwa besaß, die elfjährige Verehrungswürdige, die auf den schönen Namen Holly hörte. Leider war es weder seinen Beauftragten noch dem über New Orleans niedergegangenen Unwetter gelungen, sie aus dem Weg zu räumen.
Gerade als sich Kassam wieder in seine Arbeit vertiefen will, vibriert sein Mobiltelefon. Stoxx meldet sich, einer der Männer, die er auf die Fährte von Dr. Walls nach Mexiko geschickt hat.
»Ich höre.«
»Wir sind dem Archäologen auf den
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