Die Brut
mit!« Sie krabbelte schneller. »Komm!«
Victor bewegte sich nicht.
»Komm, Victor! Zeig Mama, wie toll du schon krabbeln kannst.«
Victor bewegte sich nicht. Die Bächlein aus Nase, Mund und Ohren liefen wieder, obwohl sie mit ihm ins Bad gegangen war und sie abgewaschen hatte.
»Krabbel doch. Bitte! Bitte! Nur ein paar Schrittchen.«
Sie versuchte, Victor in den Vierfüßlerstand zu bringen, den er in den letzten Monaten so gut gelernt hatte.
»Ja! Toll! Toll kannst du das!«
Er sackte zusammen. Seine Augen waren so furchtbar groß.
»Bitte! Victor! Nur ein einziges Schrittchen. Mach ein einziges Krabbelschrittchen für Mama.«
Sie richtete ihn wieder auf. Es sah so friedlich aus, so normal, wie er auf allen Vieren kniete. Gleich würde er loskrabeln, und sie würde ihn hochheben und ihm einen dicken Kuss auf die Stirn drücken. Sie würden gemeinsam ins Bett gehen und die ganze Nacht schlafen. Sie ließ ihn los. Victor sackte zusammen.
»Bitte! Krabbel! Tu Mama den Gefallen!«
Sie schlug ihre Stirn auf den Boden. Einmal. Noch einmal.
»Bitte! Victor!«
Sie spürte Blut in ihrem Mund. Es tat gut. Mehr. Noch mehr Blut wollte sie spüren. Was ihr Sohn konnte, konnte sie schon lange. Ströme von Blut wollte sie spüren.
»Victor! Bitte! VICTOR!«
Ihr wurde schwarz vor Augen.
Aus dem Wohnzimmer kamen die undeutlichen Geräusche einer Fernseh-Show. Sie stand ganz allein vor dem großen Kleiderschrank im Schlafzimmer ihrer Eltern. Ihre Schwester war im Kinderzimmer und schlief. Tessa bückte sich nach der Schachtel, die ganz unten links stand. Die Schachtel, die ihre Mutter neulich für sie geöffnet hatte. Die Schachtel mit den Märchenschuhen. Als Tessa sie jetzt sah, kamen sie ihr noch schöner vor. Sie waren aus einem glänzenden Stoff. Ganz weiß. Hunderte von kleinen Glasperlen waren überall auf den Stoff gestickt. Und die Absätze waren so dünn und lang wie ein Bleistift. Tessa lauschte ins Wohnzimmer. Die Babysitterin schaute noch immer Fernsehen. Ihr Herz klopfte, als sie aus ihren Hausschuhen heraus- und in die Märchenschuhe hineinschlüpfte. So groß war sie plötzlich. Sie machte einige Schritte vor dem Spiegel.
Darf ich bitten?
Sie hatte ihr schönstes weißes Nachthemd mit den Lochstickereien angezogen.
Madame
. Das Wort hatte sie neulich in einem Film gehört. Sie machte einen tiefen Knicks. Leise summte sie das Stück, das sie gerade im Flötenunterricht lernte, und fing an zu tanzen. Immer schneller drehte sie sich. Immer schneller. Das Schlafzimmer tanzte um sie herum.
Madame. Darf ich bitten? Madame
. Es gab ein hässliches Geräusch. Plötzlich lag sie auf dem Boden. Sie traute sich nicht, nach unten zu sehen. Ihr linker Ellbogen war aufgeschrammt, aber das kümmerte sie nicht. Endlich traute sie sich doch. Einer der schönen Absätze war in der Mitte geknickt. Sie versuchte, ihn wieder gerade zu biegen. Es ging nicht. Ihr wurde ganz kalt. Sie war eine Verbrecherin. Sie hatte die Schuhe, die ihre Mutter niemals hatte hergeben wollen, kaputtgemacht. Bald würde ihre Mutter nach Hause kommen. Sie rannte in ihr Zimmer. Starr lag sie unter der Bettdecke, beide Schuhe an sich gedrückt, den schönen und den kaputten.
Tessa blinzelte. Über ihr waren die Sterne. Sie hatte einen schalen Geschmack im Mund. Zahnfleischbluten. Elena hatte doch gesagt, es würde aufhören. Ihre Knie schmerzten, als sie aufstand und in ihr Arbeitszimmer ging.
Auf dem Schreibtisch war alles, wie sie es verlassen hatte. Die Lampe schien. Der Bildschirm war eingeschlafen. Die Kugelschreiber und Bleistifte lagen so ordentlich nebeneinander, wie sie es immer taten. Die Mappe mit den Reden des Wirtschaftsministers war aufgeschlagen.
Noch vor vier Jahren war hier ein weißer Fleck auf der Landkarte der Business-Angels-Bewegung …
Tessa sah die gelbe Karteikarte, die sie vorhin beschrieben hatte.
Herr Minister, glauben Sie, dass nur noch Engel die deutsche Wirtschaft retten können?
Die Frage war gut, aber sie brauchte noch mehr Fragen, viel mehr Fragen.
Herr Minister, haben Sie manchmal das Gefühl, der Sündenbock der Nation zu sein? Fühlen Sie sich von der Öffentlichkeit ungerecht behandelt? Sind Sie Masochist?
Die Spitze des Bleistifts, mit dem sie die Fragen wie im Fieber niedergeschrieben hatte, brach ab. Es hatte keinen Sinn mehr. Sie musste Attila anrufen und ihm sagen, dass sie die Sendung heute Abend nicht moderieren konnte. Je früher sie ihn anrief, desto besser. Vielleicht wiederholten sie die
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