Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Brut

Titel: Die Brut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
Vom Netzwerk:
einer Hand nach dem Stern, den sie ihm gezeigt hatte.
    »Victor!«
    Ihr Kind drehte den Kopf, lachte ihr ins Gesicht, die vier Schneidezähnchen, die in den letzten Monaten hervorgekommen waren, leuchteten.
    »VICTOR!!!«
    Ihr Kind verschwand in der Nacht.
    Er lag im Gras und schlief. So friedlich. Sie hätte die Wolldecke mit nach unten nehmen sollen. Es war nicht gut, dass er auf dem blanken Rasen lag. An dem stillgelegten Bahndamm lebten streunende Hunde und Katzen. Wer wusste, welche Ausscheidungen sie im Gras hinterließen. Sie musste ihn aufheben.
    »Victor.« Sie berührte seine Stirn. »Victor. Du kannst hier nicht liegen bleiben.«
    Er rührte sich nicht. Ein kleines rotes Bächlein lief ihm aus der Nase. Ein Rinnsal im Vergleich zu dem Strom, der auf Attilas Büroteppich geflossen war. Alles war gut. Sie hätte nur die Decke mit nach unten nehmen sollen.
    »Ich bring dich wieder ins Bettchen.«
    Ganz vorsichtig berührte sie die kleine Faust. Etwas raschelte in der Böschung. Eine Katze. Sie hielt die Luft an und lauschte. Es raschelte noch einmal. Der Mond kam hinter Wolken hervor.
    »Ich bring dich jetzt wieder ins Bettchen.«
    Sie streichelte die Finger, die sich zur Faust geballt hatten. So klein. So zart. Sie musste sehen, was sie umklammert hielten. Behutsam öffnete sie Finger für Finger. Da sah sie es glitzern. Ihr Kind hatte ihn gefangen. Den Stern, den sie ihm gezeigt hatte. Sie beugte sich hinab, um den kleinen Handteller zu küssen. Der Stern flog davon, zurück in den Himmel, in den er gehörte.
    In der Wohnung war es kalt. Tessa konnte nicht glauben, dass sie eben noch geschwitzt hatte. Ihre Finger tasteten nach der Decke, die hier vom letzten Winter liegen musste. Sie konnte nicht aufhören zu tasten.
    Victor wog schwer in ihrem Schoß. So blass war er. So groß die Augen. Jetzt liefen ihm drei kleine rote Bächlein aus Mund und Ohren. Tessa zog einen Hemdzipfel heran und spuckte darauf. Kurz vor Victors Gesicht hielt sie inne. Es war das Abstoßendste, was eine Mutter tun konnte. Auf den Hemdzipfel spucken und damit ihrem Kind das Gesicht abwischen.
    Sie musste Hilfe rufen. Die Feuerwehr. Die Polizei. Sie zwang sich, das Telefon in die Hand zu nehmen
. Vor allen Dingen musst du Sebastian anrufen. Du musst mit Sebastian reden.
Ihre Finger gehorchten ihr nicht, wollten weiter die Decke suchen.
    –
Sebastian … Es ist etwas passiert … Etwas Schreckliches passiert … Victor ist von der Terrasse gestürzt.
    –
Von der Terrasse gestürzt? Du lügst. Das ist unmöglich.
    –
Es ist wahr. Habe ich dir nicht immer gesagt, du sollst den verdammten Tisch nicht so nah ans Geländer stellen?
    –
Nichts hast du gesagt. Du hast den Tisch nur gehasst, weil er schon bei meinen Eltern auf der Terrasse gestanden hat. – Wie konnte Victor überhaupt auf den Tisch gelangen?
    –
Dein Liegestuhl. Dein verdammter Liegestuhl.
    –
Der Liegestuhl hat sich nicht von selbst so hingestellt, dass Victor über ihn auf den Tisch klettern konnte. – Und überhaupt: Wieso hast du nicht verhindert, dass Victor auf den Tisch geklettert ist?
    –
Er hat die ganze Zeit geschrien. Ich habe morgen Sendung. Ich war so froh, dass er endlich still war.
    –
Du hast ihn unbeaufsichtigt auf der Terrasse herumkrabbeln lassen?
    –
Ich konnte doch nicht ahnen, dass er schon auf einen Stuhl und einen Tisch krabbeln kann! Ich dachte, er schläft. Und ich war doch nur drei Meter entfernt.
    –
Hast du geschrien, als du gesehen hast, dass Victor auf dem Tisch steht?
    –
Ja. Ich habe geschrien.
    –
Kann es nicht sein, dass dein Schreien ihn so erschreckt hat, dass er gestürzt ist?
    –
Nein.
    –
Kann es nicht sein, dass deine Hände ihn vorher noch berührt haben, vorher noch ein klitzekleines wenig gestoßen haben, bevor sie ihn zu halten versuchten? Kann es nicht sein, dass du sein Schreien nicht mehr ausgehalten hast? Ist es nicht so, dass du sein Schreien von Anfang an nicht ausgehalten hast? Hast du dich nicht um jeden Preis der Welt nach Stille gesehnt –
    –
Nein! Nein! Nein!
    Sie schleuderte das Telefon an die Wand.
    Tessa starrte in den Himmel. Ihr Kind war zu schwer. Es musste sich bewegen. Nur ein kleines bisschen bewegen. Behutsam legte sie Victor auf der Wolldecke ab.
    »Willst du nicht krabbeln? Du krabbelst doch schon so fein. Schau. Victor. Mama macht es dir vor.«
    Tessa ging auf alle viere und krabbelte eine Runde um die Wolldecke. Es tat gut. Immer weiter krabbeln. Immer im Kreis.
    »Komm, Victor! Mach

Weitere Kostenlose Bücher