Die Brut
Luft gehen mit dir …? Komm, Mama geht ein bisschen an die Luft mit dir.«
Sie hob den Butzebär, den Victor in seinem Wutanfall aus dem Bett geworfen hatte, vom Boden auf, und ging mit beiden auf die Dachterrasse.
»Siehst du den Stern da oben, Vic? Den kleinen weißen Stern?«
Sie hatte keine Ahnung, was sie Victor über den kleinen weißen Stern da oben erzählen sollte. Und sie war sicher, ihr Sohn hatte keine Ahnung, was ein Stern war. Aber der Tonfall, in dem man solche Sätze sagt, wirkte. Victors Gesicht entspannte sich, und er hörte auf zu schreien. Die Wunde war wirklich gut verheilt. Victors Kinderarzt hatte beim Fädenziehen gemeint, dass der Arzt im Krankenhaus gute Arbeit geleistet hätte. Außer einer winzigen Blesse würde später keine Narbe zurückbleiben. Tessa küsste Victors Stirn. Vielleicht würde er jetzt einschlafen. Sie riskierte es, ihn in sein Zimmer zurückzubringen. Kaum war sie über der Schwelle, begann er wieder zu brüllen.
»Vic! Verdammt! Schlaf doch endlich! Schlaf! Ich muss arbeiten!«
Victor schrie noch lauter. Tessa drückte ihn an sich.
»Entschuldige. Du kannst ja nichts dafür. Aber sieh mal, Mama hat noch so viel zu tun. Und das kann sie nicht, wenn sie dich die ganze Nacht herumtragen muss.«
Es war zu heiß im Zimmer, obwohl sie beide Fenster aufgemacht hatte. Vielleicht sollte sie das Gitterbett auf die Dachterrasse bringen. Dort würde Victor sicher besser schlafen. Aber als Ganzes konnte sie das Bett nicht tragen. Sie würde es auseinanderbauen müssen. Der Handwerker, der es geliefert hatte, hatte eine Stunde zum Zusammenschrauben gebraucht.
Tessa ging mit Victor nach oben. Vom Sofa nahm sie die Wolldecke, die dort noch vom letzten Winter lag. Sie breitete sie auf der Dachterrasse aus und legte sich mit Victor hin. Es war schön, den warmen Kachelboden am Rücken zu spüren. Victor beruhigte sich.
»Siehst du den Stern? Den kleinen weißen Stern da oben?«
Tessa starrte in den Himmel und merkte, wie ihr Kind in ihren Armen einschlief. Ganz leise begann sie zu singen.
»Abends will ich schlafen geh’n, vierzehn Engel um mich steh’n …«
Victor blieb still. Sie lächelte.
»…
zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen …«
Alles würde gut. Sie würde morgen eine großartige Sendung machen. Sebastian würde seinen Film zu Ende bringen und dann ein halbes Jahr nicht arbeiten. Im Sommer würden sie vier Wochen in ein Landhaus in der Toskana fahren. Sie würde keine Mutter, die Jägerzäune zeichnete.
Tessa wartete, bis Victor gleichmäßig atmete, dann drückte sie ihm den Butzebär in den Arm und schlich ins Arbeitszimmer zurück.
Der Eistee war lauwarm. Sie trank ihn trotzdem. Sie wollte jetzt nicht an den Kühlschrank gehen, um kalten zu holen. Ihr Kind schlief. Es hatte sich von ihr in den Schlaf singen lassen. Sie konnte die ganze Nacht in Ruhe arbeiten.
Herr Minister, letzte Woche haben Sie eine Rede anlässlich des deutschen Business-Angels-Tages gehalten. Glauben Sie, dass nur noch Engel die deutsche Wirtschaft retten können?
Tessa lächelte und griff nach einer neuen Karteikarte. Die Frage war gut. Sie würde dem Wirtschaftsminister unter die Schädeldecke kriechen und sein Hirn so lange streicheln, bis es glaubte, schon im Schlummerland zu sein, wo man alles sagen durfte und nichts mehr verschwieg. Sie würde den Wirtschaftsminister dazu bringen zuzugeben, dass er Angst hatte, dass das Land am Abgrund war, dass es nur noch bis zum nächsten heftigen Regen dauerte, und die Ränder dieses Landes würden in die Tiefe gespült, er würde zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie er diese gewaltige Erosion aufhalten sollte, dass eines Tages von unserem Land nur noch eine verdammte Felsnadel übrig bleiben würde. In allen Zeitungen würde es stehen:
Endlich redet der Minister Klartext. Dank der geschickten Fragen von Tessa Simon
–
Tessas Kopf fuhr in die Höhe. Von der Terrasse kam ein lautes Krähen.
»Victor?«
Tessa schaute nach draußen und sah den Butzebär, der einige Meter neben der Decke lag. Die Decke war leer.
»Victor?«
Sie sprang auf. Nur drei Schritte, und sie war auf der Terrasse.
»Victor!«
Ihr Kind stand auf dem Teakholztisch. Ihr Kind war über den Liegestuhl, den sie vorhin zurechtgerückt hatte, auf den Tisch geklettert. Ihr Kind hatte sich auf dem Teakholztisch, den sein Vater direkt an die Brüstung gestellt hatte, aufgerichtet. Ihr Kind umklammerte mit beiden Fäusten die Brüstung. Ihr Kind griff mit
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