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Die Brut

Titel: Die Brut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Und da hatte der Marktanteil zwischen acht und zehn Prozent gelegen. Tessa steckte sich eine Zigarette an.
    »
Kanal Eins
will
Auf der Couch
übernehmen.«
    »
Kanal Eins

    »
Kanal Eins
«, wiederholte Attila, und die drei Silben klangen plötzlich wie der Anfang eines Evangeliums. »Ab Januar.«
    Es wurde sehr still um Tessa herum. Ein weiser Toningenieur hatte der Welt den Saft abgedreht. Die Münder an den anderen Tischen bewegten sich lautlos, die Frau mit den aufgespritzten Lippen, die schräg hinter Attila saß, lachte ein Lachen, das Tessa nicht mehr hörte, die Kellner mit den langen weißen Schürzen schwebten über den Marmorfußboden.
    »Entschuldige mich.« Tessa tupfte sich mit der Serviette den Mund und stand auf.
    Die Treppen, die zu den Toiletten hinunterführten, waren zu steil für zwölf Zentimeter hohe Absätze. Tessa hielt sich am Geländer fest.
Kanal Eins!
Raus aus dem Regionalprogramm. Ab Januar auf
Kanal Eins!
Eine Frau kam ihr entgegen, Tessa lächelte, heute gratis. Die Frau starrte durch sie hindurch.
Fahr zur Hölle, geliftete Leiche
.
Kanal Eins!
Ab Januar gab es keinen Menschen mehr, der nicht zurücklächelte, wenn Tessa Simon es tat. Im Vorraum der Toiletten hingen die Edelstahlwaschbecken in der Luft, darüber und darunter das Gewirr aus Rohren und Schläuchen.
    »Links«, sagte Tessa zu einer jungen Frau, die ratlos dastand. Das »W« und das »M« waren so dezent in den Boden eingelassen, dass nur Eingeweihte wussten, durch welche Türen zu gehen war. Die junge Frau sagte
Danke
.
    Tessa schloss sich in einer der Klokabinen ein, ließ sich auf den Deckel sinken, ballte die Faust und stieß stumme Schreie aus, bis sie keine Luft mehr bekam. Eine Angewohnheit aus frühen Triumphtagen. Der erste Platz im Hundertmeterlauf bei den Bundesjugendspielen. Die beste Klassenarbeit in Mathematik. Der Job beim Radio gleich im zweiten Semester. Die erste eigene Sendung. Das Fernsehen. Der Aufstieg.
    Sie war oben. Ganz oben. Hatte den Weg über die Nordwand riskiert und war nicht abgestürzt. Was war aus den anderen Bergsteigerinnen geworden, mit denen sie gemeinsam aufgebrochen war? Die, die ihr Glück über die Südflanke gesucht hatten: noch immer in Basislager eins. (Connie, die erst ihr Studium abschließen wollte, bevor sie sich um einen Praktikumsplatz bemühte.) Die Westflänklerinnen: auf dem langen Weg zu Sherpas geworden. (Jasmin, die auch Moderatorin hatte werden wollen und jetzt in einer kleinen Redaktion saß.
Ach weißt du, ist eigentlich besser. So ein exponierter Job, das ist nichts für mich
.) Die wenigen, die es auch über die Nordflanke versucht hatten: alle abgestürzt. Ein falscher Tritt. Kein Glück gehabt.
    Tessa zerrte das Handy aus der Tasche, sie musste Sebastian anrufen. Feli anrufen. Alle.
    Als sie auf das Display sah, gab es kein Netz.
    Zwölf Zentimeter hohe Absätze waren nicht hoch genug, als Tessa Simon den langen Weg quer durch das Restaurant zu ihrem Tisch zurückging.
    Schmeißt eure Rehwürstchen weg! Scheißt auf euer Entencarpaccio! Hier kommt Tessa Simon, die ab Januar auf Kanal Eins
moderiert! Tessa Simon, die vor gottverdammten dreiunddreißig Jahren als gottverdammte Theresia Simon in einer gottverdammten Kleinstadt begonnen hat und jetzt so weit oben ist, dass selbst ihre Fußsohlen für euch unerreichbar geworden sind!
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Attila, als Tessa sich wieder gesetzt hatte.
    »Es geht mir blendend.«
    Attila, der Nichtraucher, hatte die Zigarette ausgedrückt, die Tessa vorhin im Aschenbecher zurückgelassen hatte. Sie steckte sich eine neue an. »Absolut blendend.«
    Attila machte den Schmollmund, der daran schuld war, dass sie letztes Jahr um ein Haar mit ihm geschlafen hätte. »Ich dachte, du würdest das Angebot enthusiastischer aufnehmen.«
    »Soll ich den Tisch umschmeißen?«, fragte Tessa und lachte.
    »Du bist das Letzte. Ich frage mich, warum ich das alles für dich tue.«
    »Dreizehn Komma zwei Prozent.« Tessa konnte nicht aufhören zu lachen. »Dreizehn Komma zwei Prozent.«
    Zur Feier von Sebastians Drehende beschloss Tessa, ein dreigängiges Haute-Cuisine-Menü zu kochen. Seit Tagen tat sie Dinge, die sie noch nie oder schon lange nicht mehr getan hatte. Sie pfiff auf der Straße. Sie warf ihr T-Shirt ohne wirklichen Grund über die Brüstung der Schlafgalerie. Obwohl die warmen Spätsommertage vorbei waren, zog sie das kurze enge Kleid mit den großen Blumen an, das sie vor zwei Jahren in einem Anfall

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