Die Brut
Nach fast fünf Jahren Arbeit in drei verschiedenen Fernseh- und Rundfunkanstalten hatte sie genügend Instinkt entwickelt, sich in den meisten Funkgebäuden dieser Welt zurechtzufinden. Im Theater versagte der Instinkt. Hier schien ihr alles noch verschlungener, noch verwinkelter und unlogischer gebaut zu sein. Jetzt machte der Gang einen scharfen Rechtsknick und führte mit drei Stufen zu einer schweren Brandschutztür. Endlich kam sie in ein Treppenhaus, an das sie sich vage erinnerte. Tessa stieg und erreichte das Stockwerk mit den Damengarderoben. Sie war richtig. Die Herrengarderoben waren noch eine Etage höher.
Nur einmal war sie Carola Auge in Auge begegnet. Bei der ersten Premierenfeier, auf der sie mit Sebastian gewesen war,
Was ihr wollt
. Carola hatte Tessa entdeckt und war zusammengezuckt, als hätte ihr jemand etwas Glühendes unter den Fingernagel gerammt. Dann war sie im Gewühle verschwunden, und Tessa hatte sie den ganzen Abend nicht mehr gesehen.
Auf dem Zwischenstockwerk begegnete ihr eine Frau, Tessa holte schon Luft, um
Hallo
zu sagen, dann wurde ihr klar, dass die Frau mit den schlecht getönten Haaren und dem eigentlich schicken Mantel, der an den Hüften aber leider spannte, sie selbst war. Ein riesiger Spiegel, wie Balletttänzer ihn zum Training benutzten, lehnte an der Wand.
Tessa blieb stehen und atmete tief durch.
War es wirklich klug, was sie da vorhatte? Was tat sie, wenn –
Die Frage schwebte in ihrem Kopf wie eine Seifenblase, die Angst hatte zu platzen.
Halbherzig erklomm sie die nächsten Treppenstufen. Ein grauhaariger Mann in Strumpfhosen überholte sie, fragte, ob sie jemanden suche, sie verneinte, und er verschwand hinter der Glastür, wo die Herrengarderoben lagen.
Geh nach Hause
, wisperte die Blase in ihrem Kopf.
Das war alles nur Theater, was du heute Abend gesehen hast. Es bedeutet nichts. Weder wirst du Carola in Sebastians Garderobe finden. Noch wird Carola dir um den Hals fallen und vorschlagen, dass ihr doch prima zu dritt leben könntet. Es war alles nur Theater.
In der Ferne hörte Tessa Gelächter. Frauen- und Männerstimmen gemischt. Ihr Schritt wurde langsam, als sei Treppensteigen eine so kostbare Angelegenheit, dass man sie ins Unendliche dehnen sollte.
Die Vorstellung war eine Wiederaufnahme gewesen, sicher gab es in der Kantine oder sonst wo noch eine Feier. Sebastian würde sie bestimmt überreden mitzukommen, wenn sie jetzt gleich an seine Garderobentür klopfte. Aber wann sollte sie sich dann auf ihre Sendung vorbereiten? Und der Termin bei ihrem Friseur morgen früh war auch schon um acht.
Tessas Absatz quietschte leise, als sie auf der letzten Stufe kehrtmachte. Das grüne Schild mit dem rennenden Männchen würde ihr den Weg hinaus zeigen.
4
Selbstverständlich stellen wir Ihnen für die Tage der Sendung einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung, hatte Roger Tissenbrinck, der Chef von
Kanal Eins,
beim ersten Treffen zu Tessa gesagt. Und nun saß sie in diesem Wagen, auf dem Weg in die Schlacht. Auf dem Weg in den Triumph.
Als würde sie von einem unsichtbaren Faden gezogen, glitt die Limousine durch armseliger werdende Vororte. Der Schnee von Silvester säumte die Bürgersteige wie räudiger Pelzbesatz. In einem offenen Hof prügelten zwei Jungs mit Holzlatten aufeinander ein, ein drittes, kleineres Kind trat eine aufgerissene Plastiktonne vor sich her. Eine junge Frau, die nicht mehr jung aussah, schob eine alte Frau, die so alt vermutlich nicht war, im Rollstuhl über die Straße. Die Frau im Rollstuhl hielt ein großes Buch an sich gepresst, als habe sie Angst, jede Sekunde könne ein Dieb auftauchen und es ihr wegnehmen. In dem kurzen Moment, bevor die beiden Frauen aus ihrem Blickfeld verschwanden, gelang es Tessa, den Titel des Buches zu entziffern:
Lähmungsdiagnostik beim Hund
.
Sie lehnte den Kopf zurück. Die Stadt zerfiel. Stürzte ab an den Rändern. Als sie die Strecke im November zusammen mit Attila gefahren war, um das neue Studio zum ersten Mal zu besichtigen, war ihr die Fahrt weniger lang vorgekommen. Endlich fiel ihr das Wort wieder ein, nach dem sie die ganze Zeit gesucht hatte.
Erosion
. Die Stadt
erodierte
. Am Ende würde nichts von ihr übrig bleiben außer einer hohen Felsnadel. Und auf dieser Felsnadel würde sie sitzen, Tessa Simon, die Gipfelfrau, die Überlebende.
Mit einem Lächeln strich sie über das weiche Leder der Rückbank. Obwohl es noch keine sechs Wochen zurücklag, konnte sie sich schon nicht mehr
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