Die Brut
Goethe: Stella
Heute Abend Wiederaufnahme
Mit: Bastow, Dembruch, Waldenfels
Sie las die Besetzung noch einmal. Es musste ein Druckfehler sein. Sebastian hätte ihr doch erzählt, dass er heute Abend eine Wiederaufnahme hatte. Mit Carola. Vor weniger als zwei Stunden hatte er Tessa einen Tee ans Bett gebracht und sich von ihr verabschiedet wie an jedem normalen Morgen. Er hatte gesagt, dass er heute Abend Vorstellung hätte, aber kein Wort von Carola und einer Wiederaufnahme. Es konnte nicht sein.
Tessa warf die Zeitung auf das Beistelltischchen neben der Liege und trank den Rest von ihrem Shake. Sie würde der Kosmetikerin sagen, dass sie heute keine normale Gesichtsbehandlung, sondern die extra-entspannende Algen-Kalt-Modelage wollte.
Carola blickte der jüngeren Frau, die soeben aus dem Raum gestürzt war, nach. Langsam, sehr langsam nahm sie eine Zigarette aus dem Etui und lehnte sich gegen den großen, schwarz polierten Esstisch. Sie klopfte sich einen Fussel von der eleganten Anzughose, ihre Hände verkrampften sich einen Moment, bevor sie die Zigarette anzündete.
»Sieh herab auf deine Kinder und ihre Verwirrung, ihr Elend«,
sagte sie leise.
»Leidend lernte ich viel. Stärke mich! Und kann der Knoten gelöst werden, heiliger Gott im Himmel, zerreiß ihn nicht!«
Ein knappes Jahr war es her, dass Tessa Carola zum letzten Mal gesehen hatte. Es musste in diesem Strauß-Stück gewesen sein, wo Sebastian auch mitgespielt hatte. Damals hatte Carola sie mit ihrem rötlich glänzenden Pagenschnitt und dem flachen weißen Gesicht an eine der Rosskastanien erinnert, aus denen sie als Kind so gern Männchen gebastelt hatte. Und auch jetzt musste sie wieder daran denken. Allerdings sah Carola heute aus, wie die Rosskastanien ausgesehen hatten, wenn Tessa im nächsten Sommer zufällig den Deckel des Kartons hob, in den sie die Männchen zum Überwintern weggepackt hatte. Nie würde Tessa die Kunst einer Maskenbildnerin unterschätzen, aber das Drama, das sich in Carolas Gesicht eingegraben hatte, konnte keinem Tiegel und keiner Tube entsprungen sein.
Carola stieß sich vom Tisch ab und verließ den Raum durch die hintere Tür. Auf der Bühne wurde es dunkel. Tessa lehnte sich zurück und schloss die Augen. Was hatte sie bislang gesehen? Am Anfang hatte Stella, die jüngere, leicht rundliche Blondine, in ihrem Loft darauf gewartet, dass der Mann, der sie sitzen gelassen hatte, endlich zu ihr zurückkam. Gesellschaft leistete ihr dabei Carola (Cäcilie), die von ihrem Ehemann schon lange verlassen worden war. Als Sebastian (Fernando) endlich auftauchte, stellte sich heraus, dass er nicht nur der Mann war, auf den Stella wartete, sondern ebenfalls Carolas (Cäcilies) entflohener Ehemann. Stella war zusammengebrochen, Sebastian (Fernando) hatte stumm den Raum verlassen, und Carola (Cäcilie) mit schwesterlicher Größe versucht, die Zusammengebrochene aufzurichten.
Als das Licht wieder anging, riss Stella Schubladen auf und stopfte Dinge in einen Koffer.
»Fülle der Nacht, umgib mich! Fasse mich! Leite mich! Ich weiß nicht, wohin ich trete!«
Tessa konnte nicht sagen, wie viele Ausrufezeichen sie an diesem Abend schon über sich hatte ergehen lassen müssen. Wie in einem Sandalenfilm die Pfeilgeschwader pfiffen ihr hier die Satzzeichen um die Ohren.
»Ha, Fernando!«,
tobte die Blonde weiter.
»Du konntest meine Unschuld, mein Glück, mein Leben so zum Zeitvertreib pflücken und zerpflücken und am Wege gedankenlos hinstreuen? Edler! – Ha, Edler! Meine Jugend! Meine goldnen Tage! Und du trägst die tiefe Tücke im Herzen!«
Die junge Frau neben Tessa schneuzte leise. Entweder hatte sie die Grippe. Oder die Studentinnen von heute waren auf einem merkwürdigen Trip. In ihrer Studienzeit war Tessa auch hin und wieder ins Theater gegangen – bei irgendeinem
Sommernachtstraum
hatte sie zum letzten Mal hier oben in diesem verdammten, stickigen Rang gesessen – aber in
Stella
hätte sie sich nicht verirrt. Geschweige denn im Angesicht der eineinhalb Zentner lamentierenden Elends die Nase geschneuzt.
Kaum hatte Stella ihren übervollen Koffer von der Bühne gezerrt, kam Sebastian angerannt. Er trat gegen den Couchtisch, blieb stehen, als wolle er die Witterung von irgendetwas aufnehmen.
»Lass mich! Lass mich! Sieh! Da fasst’s mich wieder mit all der schrecklichen Verworrenheit!«
Er schlug in die Luft, sogar von ihrem Platz konnte Tessa die Schweißtropfen fliegen sehen. Es musste unangenehm sein, mit
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